Was fällt, das hält

(für Frida Parmeggiani)

Ich höre ein Geräusch, das ich mir sofort erklären kann. Es ist nicht der Alarmschrei des Eichelhähers (ein lautes Ratschen, als würde jemand sehr schnell einen Vorhang über eine Metallkarniese ziehen). Das Geräusch ist entstanden, als ich nach der Uraufführung meines Stücks Clara S. in Bonn (Regie: Hans Hollmann) auf das bodenlange Kleid von Carmen Renate Köper, welche die Hauptfigur gespielt hatte, getreten war. Ich höre einen Riß in Seide, und das Kleid muß unverzüglich ins Spital, in die Näherei. Das Kleid, das von Frida Parmeggiani entworfen worden war, ist damals verwundet worden. Aber schon damals ist mir die Möglichkeit, daß etwas Vollkommenes verwundet werden kann, unglaubwürdig erschienen. Unsinn, denn gerade Vollkommenes trägt an seinen Verletzungen noch schwerer, weil diese Verletzungen nicht mehr heilgemacht werden können. Alles, was hervorgebracht wird, kann verwundet werden und sterben, so wie alles, was geboren wird, aber das wehrt sich noch. Bei den Schöpfungen Fridas kann man es sich noch weniger vorstellen als bei andren Vollkommenheiten, die friedlich genutzt werden, aber das Entsetzen in sich tragen, sie könnten sich auflösen und verschwinden. Da steht eine große schwarze Kleidfigur, sie könnte jeden Moment umfallen, oder sind die beiden viereckigen Schleppenteile, die auf dem Boden ausgebreitet sind, etwa gar nicht Stoff, sondern etwas Festes, ähnlich einem, nein, nicht Ständer, einem Gestell, einer Versteifung? (nein, diese Standfüße sind vollkommen weich, sie sind nur da so hingelegt).

Ich sehe Fotos, auf denen eine Hand etwas feststeckt, das bereits feststeht und dann genäht werden soll; oder ist das schon das Nähen selbst, das ich sehe?, oder trägt der Stoff diese Bestimmung, daß etwas aus ihm werden muß, in sich, und die Hand ist ganz überflüssig? Es wird also ein Stück Fleisch, das fleißig ist und sich geschickt bewegt, auf ein Gebilde aus Stoff gelegt, das Fleisch geht ganz auf in diesem Hervorbringen, und das Ergebnis sehe ich als etwas, das ich nicht beschreiben kann, obwohl es ganz einfach scheint, wie Wasser, das durchscheinend ist, in eine Turbine fällt und so einiges antreibt, wenn der Strom zum Strom geworden ist. Oben wird etwas gehalten, von keinem Körper, ich weiß nicht, ob es Körper gibt, die sowas überhaupt halten könnten, man hat das Gefühl, daß das Fleisch, sobald ihm dieses, was ich nicht weiß, übergezogen wird, zusammenfällt, die Schultern würden dann nach unten kippen, die Seide würde abrutschen. Ich würde so gern diesen ganz handwerklichen Prozeß des Herstellens, den ich gleichzeitig in Frage stelle, denn diese Gebilde sind jetzt da und aus, beschreiben können, ich habe mich mein ganzes Leben am meisten für Kleider interessiert, aber ich kann es nicht. Ich schreibe, das mache ich leider oft, über etwas, um etwas herum, das nicht beschrieben werden kann, also von mir nicht, etwas Vollkommenes, das gleichzeitig immateriell ist, wie Stoff eben auch ist, er ruht, dann fließt er wieder, dann gleitet er oder rutscht ab, egal, man kann ihn angreifen, Frida und ihre Helferin stechen sogar hinein, das kann doch nicht wahr sein!, doch doch, es soll ja etwas gemacht, im handwerklichen Sinn, verfertigt werden (oder war es schon vorher da?), und erst das, was dann fertig ist, wird unbeschreiblich, doch ich kann ja nicht einmal den Zustand des Herstellens beschreiben, er ändert sich jede Sekunde, das hat Herstellen so an sich, außer man stellt etwas hin, das zuvor hergestellt wurde, und da steht es dann herum; ja, das ist genau der Punkt: die Herstellung. Das Hervorbringen, dieses Hervortreten aus dem Zustand des Abwesendseins in etwas, das andre wahrscheinlich beschreiben könnten, ich aber nicht, ist dann das, was da ist. Die Anwesenheit von etwas. Das ist so bei Kleidern, sie leben davon, daß sie anwesend sind, noch mehr aber davon, daß in ihnen jemand anwesend ist, der ihnen erst die Form verleiht. Bei diesen Kunstwerken ist vielleicht auch jemand anwesend, aber ich sehe ihn nicht, ich sehe Hände, Zweige, zarte Drahtgestelle (oder ist das etwa an die Wand gemalt und gar kein Gegenstand? So, jetzt ist es schon wieder passiert); manchmal sehe ich auch Frida und eine Helferin, die sich zu schaffen machen, ja, das könnte man vielleicht sagen, nicht: etwas schaffen, sondern sich an etwas zu schaffen machen, das seine Vollkommenheit schon vom ersten Moment an in sich trägt. Es müßte also eigentlich gar nicht mehr gemacht werden, es ist eben je schon da, das ist seine Möglichkeit, auch wenn noch soviel Mühe auf seine Herstellung verwendet wurde, nein, das meine ich auch nicht. Es muß ja gemacht werden, damit es dann gemacht ist, das, was ich nicht beschreiben kann. DAS GEWAND, das sich nicht durch Menschen wandeln kann, denn Menschen sehe ich darin nicht. Derzeit noch nicht.

Oben ist was, ja, da muß was sein, denn bei Gewändern gibt es das nicht, daß etwas in der Luft hängt, da ist etwas Kurzes; wäre man ein Mensch, was man in diesem Fall wahrscheinlich besser nicht sein sollte, der Stoff, wenigstens da bin ich mir sicher, es ist Stoff (wenn auch nicht meiner, den ich aber ganz ähnlich behandeln würde, hätte ich ihn nur erst), er würde unter der Brust enden und gleichzeitig anfangen, dort gehts los, und dann fällt es hinab, dann fließt es hinunter, gleichzeitig materiell und immateriell, und es entsteht nicht, es bricht eher auf. Es macht sich auf den Weg, so wie sich etwas in der Natur, meist im Frühjahr, auf den Weg macht, aufbricht, sind das hier auf dem Foto etwa Blüten? Wie kommt da äußerste Kunst und Natur zusammen? Viele wollen die beiden ja zusammenbringen, immer schon, aber die zwei wollen einfach nicht. Sie könnten sich finden, aber sie wollen nicht, da kann man nichts machen. Diese Gebilde, diese Gebinde vielleicht, besseres Wort dafür? Oben zusammengehalten, unten herausfallend, was das Gegenteil von ausfallend wäre, wenn man von Sprache spräche (wobei ein Gebinde ja eigentlich unten zusammengehalten wird und oben herausfliegt, explodiert, sich öffnet, wenn es friedliche Absichten hat), könnte man meinen: ermattet, weil dieses kleine Oben das fließende Unten nicht halten kann wie etwas oder jemand das Wasser nicht halten kann. Wir wissen, daß er dann überfließen würde, jedoch nicht überflüssig wäre. Überflüssig? Ja, diese Kleider sind überflüssig, aber etwas arbeitet in ihnen, in ihrer absoluten Ruhe arbeitet etwas wie der Strom in der Kraft des Wassers. Bloß sieht das Wasser dann nicht ruhig aus, außer es liegt im Stausee aufbewahrt. Wie soll ich es nur fassen, was diesen Roben oder Gebilden doch wie selbstverständlich gelingt, nehmen wir die Hand einmal von ihnen ab, die sie gemacht hat.

Ist das ein Ergebnis von etwas? Natürlich ist das ein Ergebnis, es ist ja nicht von selbst entstanden, im Gegenteil, es ist äußerste Kunst, aber aufgebrochen ist es nicht dort, wo es von der Figurine, die kein Mensch ist, die man sich als Menschen auch gar nicht vorstellen kann oder mag, und das ist so gewollt, wo es von dem Gestell, das eine menschliche Form nachahmt, nein, darstellt, vorstellen soll, herunterfällt, ohne je hinzufallen: Darf ich mich vorstellen, ich bin kein Mensch und soll es auch gar nicht sein, die Vorstellung ist also ohnehin ganz unnötig, aber das, was auf mir ist, ist etwas, das in einem anderen, in einer Frau, entstanden ist und zum Vorschein kommt, der zwar vorkommt, aber nicht als Schein, und auch nicht als Kommen. Diese Gewänder, ich nenne sie vielleicht einmal so, obwohl ich, wie gesagt, nicht weiß, was sie sind, sind nicht dazu gemacht, irgendwo reinzukommen oder irgendwo rauszugehen (was ihnen passiert, wenn sie mal rauskommen, habe ich mit meinem dummen Tritt auf den Kleidersaum damals in Bonn ja bewiesen. Sie sind verwundbar, obwohl sie gemacht sind, nein, im Gegenteil, alles, was gemacht wird, ist verwundbar. Alles Große steht nicht im Sturm, sondern kann fallen und sterben, und es wird auch fallen, denn alles, was fallen kann, wird auch fallen), diese Hand am Stoff, also nein, wie geht es ihr, wenn sie das berührt, was sie da macht, womit sie da arbeitet? Es wird viel gemacht, ohne daß man es berühren kann, man kann sogar die Abwasch machen, Wasser fließt, schmutziges und dann, später, sauberes, ich will nicht sagen, daß alles fließt, das hat schon ein andrer gesagt, jeder weiß es, was mich nicht hindern würde, denn ich sage am liebsten Dinge, die schon ein andrer gesagt hat, hier aber, hier aber: Gerade das, was verfertigt wird, fließt, glaube ich, in den seltensten Fällen, die Künstlerin will ja, daß es besteht und nicht flüchtet, während man es noch anschaut oder spätestens dann, wenn man ihm den Rücken zukehrt. Es ist scheu, doch es bleibt. Entsteht da etwas, das nur da ist, weil man ihm das schuldig war? Ist der Drang, diese Gewänder zu ersinnen, denn mit den Sinnen soll man sie ja aufnehmen, sie zu entwerfen und herzustellen, aus Schuld entstanden, damit man danach seine Schuldigkeit getan hätte? Aber man sagt ja: seine Pflicht und Schuldigkeit tun. War Frida Parmeggiani der Welt das schuldig, was sie da tut? Sie war am wenigsten schuldig, außer sich selbst. Sie war sich vielleicht etwas schuldig. Man hat ja nicht immer das Gefühl, wenn man ein Werk anschaut, daß es entstehen mußte, aus einem Zwang heraus, um Schuldigkeit zu tun und Entschuldung zu erreichen, weil das, was man geschaffen hat, eben da sein muß, weil es selbst nicht anders kann, und man ist es ihm schuldig, ihm beim Erscheinen zu helfen (also ich erspare mir hier den Begriff Geburtshelferin, der wäre völlig daneben. Frida hat diesen fließenden Gebilden, die auch an bestimmten Stellen eine gewisse Festigkeit zeigen, zumindest ahnt man sie, aber auch diese Festigkeit ist eine fragile, etwas als eine Art Beistand mitgegeben, damit es nicht alleine bleibt und irgendwann abfällt, obwohl der Gegensatz zwischen Fallen und Stehen mir hier schon wichtig scheint, und beide Vorgänge finden hier gleichzeitig statt, ja, das ist es vielleicht, diese Stoffwesen stehen und fallen zugleich. Und nein, das Wort Gestell bekommen Sie jetzt nicht! Tüll zum Beispiel, den auch Einar Schleef, der einzige, der mir als Vergleich dazu einfällt, auch er ein besessener Kleiderbildner, wenn man dieses Wort der Einfachheit verwenden mag, also Tüll, den auch Schleef gern verwendet hat, um eine Festigkeit — ich würde sagen: einen Stand, nein, keinen Hochstand, und nein, kein Gestell!, also nichts Standfestes, aber etwas, das stehen kann, sich wie von selber aufrechthält, wie ein zartes Drahtgitter, was er ja ist, Tüll ist ein Gitter — aus dem Fließen herauszuholen wie einen Stein aus einem Gewässer, nein, ganz falsch, nichts aus der Natur mehr, bitte, keine Naturgriffe, Kunstgriffe!, obwohl ich da vielleicht schon auf einem richtigen Weg bin, denn hier sehe ich oft Zweige, die etwas machen, was bitte?, dienen sie nur als Kontrast zum scheinbar Flüssigen des Stoffs? Haben sie eine Funktion, sollen sie sich abheben, soll das Gewachsene der Natur dem Handwerk des Gemachten gegenübergestellt werden, um was zu zeigen? Rausholen, was geht, aber diese Kleiderwesen gehen nicht, sie würden nicht mit ihren Trägerinnen mitgehen, falls es die je geben sollte, sie weigern sich, die Wesen, sie sind nur fürs Hervorscheinen zuständig, das kein Anschein ist, sie sind nur das Gegenteil von Natur — sie kommen nicht wie der Frühling mit seinen blöden Knospen — , sie sind, wie ich vermute, je schon da, immer schon dagewesen. Sie ruhen nicht, sie beruhen auf etwas. Der Vorstellung von Körper? Aber der Körper gehört dort gar nicht drunter, der gehört dort nicht hin! Er darf vielleicht dorthin, aber man kann ihn sich in diesen Kleidern nicht mehr vorstellen. Ich sehe die Hand an der Wiege des Hervorbringens, das noch kein Wesen hervorgebracht hat, die Hand mit ihren Sehnen und Adern, keine junge Hand mehr, genau wie meine eigene, genau so alt, diese Hand macht etwas erscheinen, das mit einem Kind, mit Fleisch, mit Lebendigkeit nichts zu tun hat, aber auch nicht mit Tod. Was da entsteht, könne das fehlende Glied sein, das missing link zwischen dem Hervorbringen und dem Da Sein. Das Fleisch der Hand, die Muskeln und Sehnen, die stecken und nähen, wieder aufreißen und neu zusammensetzen, ist nur eine Absetzbewegung, eine Absetzbewegung von etwas, das doch gleichzeitig wieder durch diese Hände hervorgebracht wird. Da muß es durch. Etwas Handfestes, das sich, im Herstellen, schon distanziert von dem, was ohne diese Arbeitshände auskommen muß, nein, auch falsch, es muß nicht auskommen in dem Sinn, daß es sich nach der Decke strecken muß (es streckt sich eher nach dem Boden, auf den es zufließt, bis es auf ihm aufruht; das Gemachte ruht dann endlich, ohne sich auszuruhen, es ruht einfach und aus), das Gemachte also will vor dem Prozeß seiner Herstellung flüchten, es kann diesen Prozeß gar nicht schnell genug loswerden (wahrscheinlich würde Frida mir hier heftig widersprechen, vielleicht sind diese Gebilde an ihr selbst festgenäht, genadelt, vielleicht sind sie untrennbar mit ihr verbunden, aber ich sehe auf diesen Fotos ja nur, was ich sehe, sie sieht alles natürlich schon vorher, sie weiß es), damit man ihm die Machbarkeit (daß sowas überhaupt gemacht werden kann, ist mir ja schon ein Rätsel!) nicht mehr ansieht. Das meine ich mit Vollkommenheit. Das es nicht gemacht worden sein kann, sondern eben immer schon da war, auf eine Herausforderung antwortend oder einfach nur so, Stoff, der sich von sich aus versammelt hätte, nein, das tut er nicht, soviel Erfahrung mit Stoff habe sogar ich, der tut nichts von selber.

Es sind Stoff-Geschöpfe, die niemand mehr brauchen, obwohl sie ohne jemanden niemals hätten entstehen können. Sie hätten aus dem Nichts, aus dem, was man nicht sieht und wo es nichts gibt, nie heraustreten können, aus dem Verbergen nicht herausgeborgen werden können, auch nicht verborgt werden, Besitz sein, das ist eine unmögliche Vorstellung. Diese Kleidergeschöpfe sind aus sich selbst und bleiben sie selbst, obwohl sie gemacht worden sind, aber als wären sie nie gemacht worden. Dieses Kommen schwingt aus, obwohl es still am Boden ruht, der untere Rand (ich sage nicht: Saum, ich weiß nicht, ob man das einen Saum nennen kann, bei gewöhnlichen Kleidern: ja, Saum wäre da korrekt) liegt da, aber nicht wie ein liegendes Wesen, ein Tier vielleicht, der Saum schweift (soll ich hier vielleicht sagen: schleift? Nein, falsch, obwohl er sich nicht bewegen kann, schweift er doch herum) über den Boden (manche dieser Kleiderwesen haben eine Schleppe, sie ziehen nach hinten, so wie der Fluß immer nach vorne zieht — Blödsinn! Es kommt natürlich darauf an, wo man steht —, so ziehen diese Tüllschleppen nach hinten. Die Natur zieht nach vorn, die Kunst leistet ihr Widerstand und will nicht zurück, nicht zurück in die dunkle Verborgenheit, sondern halt nach vorn, vorankommen, wenigstens ankommen. Diese Kleidergeschöpfe ziehen an sich selbst, nicht aneinander, wie soll ich es sagen, sie wollen dasselbe, aber gleichzeitig wollen sie nach vorn und nach hinten, vielleicht bleiben sie deswegen aufrecht stehen, weil dieser Kampf nicht entschieden werden konnte?). Haben sie sich dazwischen verirrt? Nein, das ist ihnen nicht möglich. Es ist ihnen nur möglich, als Hergestelltes da hergestellt zu stehen und gleichzeitig davonzufließen, unseren Händen und Körpern entzogen zu werden und den Spuren der Nadeln und Fäden, die von einer Frau, Frida Parmeggiani, und Helferinnen, Hebammen? ich weiß es nicht, dazu verwendet wurden, sie zum Entstehen und dann zum Vorschein zu bringen. So. Warnung: Das ist nicht für Menschen! Ab hier betreten Sie verbotenes Gebiet! Alles ist da, das ist mein recht armseliges Fazit. Alles, was gemacht wurde und erscheinen sollte, ist da und enthält jede Möglichkeit der Verfertigung, damit ein Zustand des Fertigen erreicht wird, bloß: beschreiben kann ich ihn nicht. Dafür habe ich bis jetzt schon ziemlich viel Platz gebraucht, während diese Gebilde nur den Platz brauchen, den sie nicht beansprucht, aber bekommen haben. So, wie diese Kleider hier auf den Figurinen hängen, nein, eben nicht hängen, an ihnen herunterfließen und ab und zu wieder Festigkeit erlangen, fragile Festigkeit, ja, so sind sie nicht ihre Möglichkeit des Fertigwerdens, der Verfertigung und dann des Fertigwerdens, sondern ihr Ziel des Fertiggewordenseins. Und das meine ich mit: das, was nie geboren, das, was immer war, Jesus, ja, genau, der aus dem Kirchenlied, der würde es kapieren. Es wurde etwas gemacht, damit es fertig ist, und nichts kann dann mehr hinzugefügt und nichts mehr weggenommen werden (es sei denn, ein Zweig, ein Stück Natur, der sich neugierig hinüberbeugt zu den Gebilden, sowas hat er ja noch nie gesehen, was für ein Glück, daß er nicht die Wahl hatte! sonst wäre er verrückt geworden. Er mußte auf diesem oder jenem Baum oder Strauch wachsen, das ist schon genug Arbeit in der Natur, das braucht viel Saft und Kraft). Diese Stoff-Wesen hätten nicht so oder so ausfallen können (vielleicht doch, Frida fragen! Hätte sie diese Gebilde nur so oder auch ganz anders machen können?), es ist auch egal, wichtig ist, daß sie verfertigt, gemacht worden und jetzt da sind. Ohne Zusammenhang mit anderem. Jedes für sich und allein mit sich. Das ist es vielleicht: alles hervorgebracht und dann allein mit sich, damit niemand sich traut, dorthin zurückzugehen, wo sie verborgen waren, diese Geschöpfe ganz aus Stoff. Ohne Vergleich, und selbst die Möglichkeit des Vergleichens (außer vielleicht mit Schleef, aber der fällt mir auch einfach nur eben so ein, weil mir kein andrer einfällt, ich glaube aber, bei ihm war es eine ganz andre Art von Besessenheit) ist ihnen genommen. Ja, Wesen. Jedes für sich, in sich selbst gespeichert, keinem Wind ausgesetzt wie der Zweig, der sich manchmal an sie schmiegt oder ihnen appliziert oder an einem Ort, den man Taille nennt, einfach locker hingesteckt, damit man nicht zu übermütig wird und versucht, Natur nachzuahmen, vielleicht gelingt das ja? Diese Kleider sind der Natur zwar unterworfen wie wir alle, in sie hineingebaut, aber, obwohl ich die Hand sehe, die sie da hält, die Hand, die nicht fällt, weil sie weiß, was sie tut, sind sie der Natur entzogen, in dem sie hervorgetreten sind und dafür sorgen, daß niemand mehr in ihnen auftritt. Damit nicht ein Klotz wie ich drauftritt, der Riß entsteht, die Wunde, die nie mehr geschlossen werden kann, auch wenn die Näherinnen es wieder hinkriegen mögen. Das geht jetzt mit diesen Kleidern nicht mehr. Frida Parmeggiani hatte recht, sie entstehen zu lassen. Denen kann niemand mehr was tun, auch wenn sie zerfetzt würden. Sie sind für niemand, weil sie sind.

siehe auch Kunst Meran:

17.7.2016


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