Zur Erinnerung an Alfred Kolleritsch1931-2020
Ich habe ja immer schon geschrieben, aber Fredy war einer der Wegweiser dafür. Oder eher Parkplatzwächter? Er hat meinen Texten nie den Weg gewiesen, den mußte ich selber finden, aber er hat mich eingewiesen, er hat mich auf dem Parkplatz der manuskripte eingewiesen. Zwar hat mich nicht der Denkweg auf diesen Parkplatz, der nie ein bloßer Abstellplatz für Vehikel war, geführt (Fredy ist ja Heideggerianer), der wäre mir zu lang und zu kompliziert gewesen. Aber ich habe die eleganten Bewegungen Fredys, des Wächters (und Wärters, er hatte es ja zeitweise mit mehreren Irren gleichzeitig zu tun), immer gesehen, auch im Rückspiegel, auch wenn vorne die Windschutzscheibe, die gegen alles geschützt hat, aber nicht gegen scharfen Gegenwind, durch Unachtsamkeit total verschmiert war, sodaß ich mich nicht mehr rausgesehen hatte. Dann haben wir sogar eine (sehr) kleine Realismusdebatte geführt, da bin ich irrtümlich aufs Gas gestiegen, hab ja nicht gesehen, wo genau ich hinfahre, aber da war kein Betonblock, der mir die (leider etwas brustschwachen) Scheinwerfer eingedrückt hätte, was ich vielleicht gar nicht gemerkt hätte, sondern da war eine liebevolle ordnende Hand, die mich mitsamt meinem wackligen Gefährt aufgenommen und schön neben die anderen hereingewunken hat. 8.2.2006
Im Schock des Positiven
Die Gefährlichsten sind die, die schon vorher alles gewußt haben und daher
auch jetzt immer alles wissen. Es sind Leute ohne Hemmungen, ihre Ideale
sind die einzigen Wahrheiten, sie sind eins mit jenen und halten sie für die
restlose Erscheinung. Ihre Sicht verhindert jede Einsicht, und das betrifft
Schwachsinnige wie Scharfsinnige. Sie sind im Schock des Positiven erstarrt,
wie es Alfred Kolleritsch als eine seiner schrecklichsten Kindheits- und
Jugenderfahrungen mit Nazigläubigen beschreibt. Heute sind es jene, die
ihre Autonomie, die sie natürlich ständig behaupten und vor sich hertragen,
in einer Autoschlosserei zusammen-blechschustern lassen, oder diejenigen,
die ihre eigene Geworfenheit so gern selbst in die Hand nehmen und in
einen Basketballkorb werfen würden, als wäre diese ihr Spielzeug. Aber
wenn jemand glaubt, etwas um jeden Preis wahren oder be-wahren zu
müssen, dann sagt er deshalb noch lang nicht die Wahrheit. Vielleicht tut er
alles nur, um seinen Entwurf zu bewahren, damit wenigstens der für eine
Weile gültig bleiben soll, tun wir Schreibenden das nicht alle? Nein, wir
verwerfen meist mehrmals unsere Entwürfe, während die Selbstgewissen
derweil die Malbücher brav ausmalen, die sie geschenkt bekommen haben. Es gibt, glaube ich, keinen, der sich im Schreiben der Vorläufigkeit so
bewußt ist wie Kolleritsch. Der wirft nicht einfach los, der tastet sich erst
einmal eine unsichtbare Linie voran, weil er das Offene sucht, nur um dort
dann ganz bestimmt nicht offen zu sein für alles und zu jedem, der
daherkommt. Es ist ein Schreiben, das sich eher aus der Verschlossenheit
herauszwingt, eben weil der Schreiber gerade in einem besonders
eindrucksfähigen Alter schon die meisten der möglichen Abgründe
kennengelernt hat. Und jetzt ist er sogar vorsichtig, wenn er nur einen
Absatz einrückt, weil diesem Absatz ein Stiefel folgen könnte, der alles in
den Boden hineintritt, und weil ein Einrücken, auch eins, das nicht dem
Militär gilt, schon die Offenheit stören könnte, die er uns allen lassen möchte,
aber als einen Rückzugsort. Denn dieser Schriftsteller zwingt uns garantiert
zu nichts, er zeigt uns nur alles. Und dann zieht er sich sehr leise wieder
zurück, damit wir es uns selbst in Ruhe anschauen können. So hat er es
schon in seinen Briefen an seine beiden Söhne gemacht. Er sagt uns, daß
das alles (und noch vieles andere!): da ist. Die Schreckensgestalten seiner
Jugend haben eine sogenannte Erneuerung als das Endgültige erlebt, als die
erlösende, und schließlich vernichtende, verkörperte Ordnung, und davon
hat Kolleritsch, der ja so lang auch Lehrer war, eine sehr behutsame Hand
behalten, mit Lesern, Schülern, Freunden und seinen Kindern. Er hat
Menschen erlebt, die nicht einmal, wie er schreibt, "im Atmen sie selbst"
waren, und in jeder ihrer geschorenen Frisuren war der Totenschädel. Es ist daher besonders schwierig, auch nur etwas von einem Menschen zu
erfassen, auch wenn er heute hoch geehrt werden soll, der sich diesem
Erfassen so aus bestem Wissen entzieht wie Alfred Kolleritsch. Und,
paradoxerweise, ist er einer, der sich ja öffentlich immer wieder besonders
exponiert hat, nicht nur als Schriftsteller und, ja, auch als einer der größten
politischen Essayisten, was vielleicht weniger bekannt ist (er hat, wie die
Bachmann, über Heidegger dissertiert, und selbst im fröhlichsten
Dissertieren ist ja auch das Tier schon drinnen, ähnlich wie, einem
spöttischen Wort von Oswald Wiener über Arno Schmidt zufolge, im
Unterfertiger der Tiger ist, was aber nichts weiter zu bedeuten hat, bzw.
was alles zu bedeuten hat, oder nicht?). Er hat sich geäußert und für uns
alle, die in einer bestimmten Zeit zu schreiben begonnen haben, vorgewagt
in dem Wissen, daß etwas alles und nichts bedeuten kann, und daß man
daher überhaupt sehr vorsichtig sein muß, weil nichts dann auch alles
bedeuten kann: die Unerschöpflichkeit des Einzelnen und die Erschöpfung
durch Geheimnisse, also Dinge, die man niemandem sagt, die man
ausspart, und die einen doch ausmachen, und die man die ganze Zeit
parallel zur Wirklichkeit mitgedacht hat, bis man merkt, daß das Geheimnis
die Zeit selbst war, die jetzt endgültig abgelaufen ist. Oder, wie in dem Brief
an seinen Sohn Julian:" Ratsamer als die Wahrheit ist der Weg zu den
Zeichen der Vergänglichkeit. Denke die Zeit mit, bei allem." Und in der Zeit
ist vieles geschehen, was sich hier scheinbar leicht fassen läßt an Daten und
Zahlen. Aber diejenigen, die sich gern in den Anblick von Zahlen verbohren,
können das ja überall nachlesen. Die Gründung der Zeitschrift
"manuskripte", die Mitbegründung des Forums Stadtpark, dessen späterer
Präsident Kolleritsch lange gewesen ist. Da glänzen heute überall die
selbstgewissen Rufe von den hochsubventionierten Staatskünstlern, mit
denen endlich abzurechnen sei, und auch einige der Kollegen rufen, in der
dazugehörigen kollegialen Weise, kräftig mit, wenn ihnen schon keiner ein
Horn gibt, in das sie stoßen können, damit man sie noch lauter hört (meist
betrifft das allerdings Leute, die Subventionen weder brauchen noch
bekommen), aber die meisten dieser lauthalsigen Kollegen, Journalisten
und Politiker haben keine Vorstellung, wie sehr, in den frühen sechziger
Jahren und noch lange danach, der damals herrschenden repressiven
Ignoranz jeder Schilling für eine Literaturzeitschrift, für eine
Begegnungsstätte unerprobter, experimenteller Kunst abgerungen werden
mußte. Alfred Kolleritsch könnte es ihnen erzählen, denn er hat diese
Bettelarbeit lange geleistet, ohne dafür seinerseits jemals irgendwelche
Zugeständnisse zu machen; und er hat nicht einmal die langen schwarzen
Ärmel der Justiz gescheut, die Geschichte der "manuskripte" beweist es zur
Genüge. Es soll also heute gerühmt werden einer, von dem ich ahne, daß er gerade
gegenüber diesem Herausgeholt- und hier jetzt Dahingestelltwerden die
größte Reserviertheit hat. Denn er ist gegen die Wahrer mit der Wahrheit
aufgestanden, gegen die Wächter mit der Wachsamkeit, und die Sucher hat
er als diejenigen entlarvt, die bereits wieder durch den Sucher schauen,
wen sie da finden könnten, obwohl derjenige vielleicht gar nicht aufgesucht
zu werden wünscht. Und vielleicht macht das eine der größten Qualitäten
auch seines Schreibens aus: das Zögern. Ein Zögern, das nicht Unsicherheit
ist, sondern, im Gegenteil, die äußerste Sicherheit im Aussprechen von
etwas. Vielleicht nicht im Wissen, aber im Sagen. Denn was wahr ist, ist
auch gleichzeitig schon zerstört. Die Natur, die Kolleritsch in seinen Texten
beschreibt, die Speisen, zum nicht geringsten Teil Tiere, die einmal gelebt
haben, und die er bis ins kleinste Detail aufzählt (eine seiner Vorfahrinnen
war eine sehr berühmte Köchin, und auch er selbst versteht eine Menge
vom Essen!), all das ist ja schon von Anfang an verfallen, obwohl keiner ein
Verfallsdatum draufgestempelt hat. Das, was stundenlang
zusammengerührt wird und auf den Herd kommt, ist dazu da, gegessen zu
werden und zu verschwinden. Die Natur ist das Ergebnis einer bis zu ihrem
Ende abrollenden Zerstörung. Aber es muß vom Dichter immer wieder
gesagt werden, was da war, auch wenn man selbst dessen schon in dem
Moment nicht mehr sicher sein kann, da man es aufschreibt. Das alles, die
Natur, das was durch Technik oder Zerstörung aus ihr wird, die Speisen nach
den berühmten alten, von Kolleritsch minutiös bewahrten Kochrezepten der
großen Häuser der Aristokratie (er kommt ja aus einer Familie von Ver-
waltern, und das was da gewaltet hat, ist verwaltet, geordnet worden, bis
es wieder verfiel), in diesen Speisen ist etwas gekommen, kurz geblieben,
und dann wieder gegangen. Und was dagelassen wurde, das muß man, im
Wissen seiner Flüchtigkeit, sehr schnell festhalten, für ein paar Augenblicke
zumindest. Auch wenn man weiß, daß die Sprache dafür immer hilfloser
wird, weil, wie bei Kolleritsch gesagt wird "mir alles schon gesagt vorkam.
Ich vertraute nicht mehr meinem Erleben. Ich erlebte nur, was ich erlebte,
aber das Erlebte war nacherlebt, hatte mit mir nichts zu tun oder nur so
weit etwas mit mir zu tun, als es mich quälte. Ich fand stets das gleiche
wieder. Was meinte meine Sprache schon, ihre Wörter, ihre Sätze?" Landschaften werden zu Naturparks und Erholungsgebieten gezähmt, sie
werden den Massen geöffnet und sollen dabei wieder unschuldig werden, nur
damit sie den Menschen, die sich selber ebenfalls für unschuldig halten, noch
besser gefallen. Und die Erde schweigt dazu. Aber wie kann man ein Verhältnis zum Lebenden eingehen, wie kann man
es beschreiben, ohne es wieder und immer wieder mit Wörtern, die fremde
Leute ausgespuckt haben (und wenn sie "zivilisiert" waren, haben sies
vorher noch ordentlich in ein Papierl von einer Zeitung eingewickelt), zu
bombardieren und zu ersticken? Das geht eben nur mit dieser äußersten
Vorsicht, die das Mühelose des Lebenden faßt, ohne auf die Überwindung des
Mühsamen abzuzielen, aber doch mit der äußersten Mühe, der äußersten
Sorgfalt des Beschreibens? So wie der Junge Josef Algebrand in Kolleritschs
bisher letztem Roman "Allemann" Abscheu entwickelt, die Leute, von denen
er auf diese Frage eine selbstgewisse Antwort bekommen hätte, zu fragen,
warum sie stolz seien, im Deutschen Reich zu leben (die anderen würden
ihm gar nicht antworten), so ist der Dichter Kolleritsch selbst einer, der, aus
Scheu oder Behutsamkeit, um die Dinge herumschreibt, und gerade damit
die größte Präzision erzielt, weil er so auf keinen Fall etwas Lebendiges
zerstören kann und will. Er begnügt sich sozusagen mit dem Echo, dem
Widerklang, das den Gegenstand, in seinem Fall immer: das Leben,
genauer abbildet als jedes sogenannte "Echte", denn im Echten ist nichts
verwahrt. Nur im fernsten Widerhall ist das verwahrt, das sich nicht
beschreiben läßt. So wie eine geheimnisvolle Stelle an einer Fichte in Josefs
Wald, ein grün überwachsenes Loch, zu dem der Junge immer wieder
zurückkommt, und diese Nicht-Stelle, diese Hohlstelle oder auch:
Aussparung im Baum ist ihm eine Art Zeuge "mit einem überragenden
Gedächtnis". Es enthält für ihn alles, eben weil etwas ausgespart bleibt und
erst gegenstandsfähig gemacht werden muß, indem man darüber schreibt,
nicht indem man es einfach zustopft. Oder mit Propagandaplakaten
überklebt. Vielleicht ist dieser Sprung etwas kühn und auch etwas "zu
gemacht", aber ich glaube, daß der Jugendhorror des Dichters vor der
Ordnung, der er damals, als sogenannter deutscher Junge unterworfen
worden ist, und auch noch lustvoll sollte das geschehen, wurde von den
Erziehern verlangt!, einer Ordnung, in der das Alte abgeschafft sein sollte,
für ihn später mit ein Anreiz, geradezu ein Zwang gewesen ist, das Alte
zwar beiseitezuschieben und das Neue anzufangen, indem er die wichtigste
Avantgardezeitschrift des deutschsprachigen Raumes gegründet hat, und
dem Neuen in seinem Forum Stadtpark eine Heim-Stätte gegeben hat, er
hat das aber, fürs Leben traumatisiert von geschlossenen Ideologien, nicht
gewaltsam oder selbstgewiß getan, sondern, wie er es auch in seinem
Schreiben tut, in aller Behutsamkeit, die man nur aufbringen kann, wenn
man sich ein für allemal für das Leben entschieden hat, das alles in sich
einschließt und alles mit zu sich nimmt, ohne es in sich zu verschließen,
auch das, was eigentlich längst vorbei ist. So erklärt sich auch Kolleritschs
milder, toleranter Spott, als einige von uns, auch ich, in der Zeit der 68er
Studentenbewegung die absolute und einzige Wahrheit, bereits vorpaketiert
und eingefüllt in ein paar Kolumnen, ihm eintrichtern wollten. Gutmütig wie
er ist, hat er auch diese Pakete noch in sein Regal gestellt. Es ist sehr nett
von ihm, daß er dazu später immer geschwiegen hat, obwohl er gewiß sehr
viel mehr dazu zu sagen gewußt hätte. Diese Ehrung heute gilt aber nicht nur dem Werk, sie gilt auch der Person
Alfred Kolleritsch. Auch für diese Person gilt, was für ihr Schreiben gilt: Jetzt
wird er herausgehoben und geehrt, aber er ist eigentlich wo anders, und
indem er wo anders ist, ist er mehr da als ich, als wir alle. Wie soll man das
erklären? Unser gemeinsamer Freund und Kollege Jürg Laederach hat mir
aufgetragen zu sagen — er hat mich allerdings darauf eingeschworen, ihn nur
ironisch zu zitieren —, daß "er, Kolleritsch, seine bezwingendste Epik
mündlich spricht, im Gespräch, und daß er ein genialer Situations-Erfasser
ist, der alles blitzschnell in Sprache kleiden kann, dazu wiederum
freundliche Ironie, höchstens etwas Sarkasmus wählt, von welchen man
allerdings merkt, sie sind auf immenser Erfahrung gegründet. Er besitzt das
seltene Doppeltalent, mit seinem Sagen die Realität zu bedienen, denn was
er sagt, stimmt, erfaßt die Lage, ist für den Orientierungssuchenden
verläßlich, aber es bedient auch die Imagination." Na, ironisch war das
nicht, aber jetzt ist der Jürg wenigstens auch mit dabei. Wenn also heute ein
Zurückgezogener, sogar ein Entzogener, hier ausgezeichnet werden soll,
dann einer, der aus dieser Zurückgezogenheit heraus uns aufgenommen
und uns dann wieder zurückgegeben hat, indem er auch aus uns Figuren
seiner Texte gemacht hat. Er hat uns sozusagen noch einmal geschaffen,
indem er uns die Wahrheit, die eben nur für den einen Augenblick des
Hinschreibens gilt, gesagt und uns der Wahrheit, also der Vergänglichkeit,
auf diese Weise auch wieder überantwortet hat. Das beweist, daß er die
Mühe auf sich genommen hat, uns, für einen Moment, neu zu sehen, damit
wir selbst uns neu sehen können. Ohne daß wir etwas hätten aufgeben
müssen. Und indem wir gelernt haben, etwas neu zu suchen. Das heißt aber
auch, daß er sich je schon selbst belohnt hat, indem er uns belohnt hat, und
das heißt weiter, daß ihm keine Ehrungen angemessen sind, weil er ja
immer uns geehrt hat. Auf diese Weise, wie sagt Jürg Laederach? indem er
gerade im richtigen Augenblick NICHT zuhört, wird er zu jemandem, der
niemals kontrolliert werden kann, auch nicht durch Preise oder Ehrungen
oder Reglementierungen, und freundlicherweise hat Jürg noch gesagt, daß
alles, was ich hier sage, ohnehin vergeblich ist, weil Alfred Kolleritsch es
immer schon besser hätte sagen können. Es ist das alles also vergeblich, ich
habe es aber trotzdem getan. Wenn nämlich einer am eigenen Leib
erfahren hat, wie man das Wittgensteinwort pervertieren kann zu: "Die
Grenzen der Sprache waren die Grenzen des Reiches und des Volkes", was
wiederum bedeutet, daß die Sprache zu einem bloßen
Verlautbarungsmedium, und sogar noch aus Lautsprechern!, verkommen
kann und man über alles, aber wirklich alles, zu schweigen habe, was etwas
bedeuten oder bewegen könnte, so kann man ihm nicht zumuten, etwas,
das er natürlich viel besser weiß als ich, hier an dieser Stelle über sich
selbst auch öffentlich auszusagen. Das habe also ich übernommen.
Trotzdem. Denjenigen, die glauben, daß es "wirklich nichts anderes zu
sagen gäbe" als das, was je schon vor-gesagt worden ist, denjenigen also,
die von den Schriftstellern erwarten, daß sie sich aus diesem, bei Kolleritsch
bereits in der Kindheit erfolgten Rückzug, um die Sprache und damit die
Wahrheit zu retten, herausbegeben, um etwas in dieser Welt zu
"repräsentieren" (und erwartet man nicht Repräsentation von unseren
"Ordensträgern"?), denjenigen also möchte ich gesagt haben, daß dies alles
hier nichts bedeutet, und daß Fredy Kolleritsch das besser weiß als wir. Er
wird auch weiterhin den Angriff auf diejenigen nicht scheuen, die, auch in
der Sprache, wieder "Ordnung" machen wollen. Dies hier ist kein
ordentlicher Ordensträger, das kann ich Ihnen versichern.
1997
Das Gewicht der Hand Fredy Kolleritsch ist es gelungen, ohne Druck, ohne Zwang Menschen um sich zu versammeln. Er hat nie Macht ausgeübt, die schreibenden Menschen sind ihm zugeflogen. Die Leute sind einfach bei ihm zusammengekommen, und er hat sie bei sich behalten (nicht so wie wenn man etwas grade noch bei sich behalten kann und nicht von sich geben muß, ein nach Krankheit oft ersehnter Punkt im Dasein), sozusagen mit leichter Hand hat er die divergierenden Wesen und Kräfte an sich gedrückt, aber nicht so fest gedrückt, daß sich das, was sich bei diesem oder jenem Wesen entfalten hätte können (die Möglichkeit hat er immer gesehen!), nicht wirklich entfalten hätte können. Das ist ziemlich viel: keine Macht über eine Gruppe auszuüben, die man zusammengebracht hat. Man muß sich dazu vergessen können, sich selbst, aber dieses Sich Selbst Vergessen darf kein Verlassen der anderen sein. Man nimmt sich selbst leicht, aber die anderen werden, jeder nach seinem Wesen, erkannt und angenommen, damit sie ihre Wahrheit ausbreiten können. Kolleritsch hat seine eigene Wahrheit in seinen eigenen Büchern dann daneben hingelegt, mit erstaunlich leichter Hand (wieso war sie auf dem Weg so leicht geworden? Weil der Weg so lang war, daß die Hand Gewicht verloren hat? Jedenfalls an Gewicht hat sie nicht verloren, die Hand, und was sie schreibt wird auch nie an Gewicht verlieren können. Vielleicht weil sie verlieren kann, und weil sie jederzeit bereit dazu ist, wird sie nie an Gewicht verlieren), nachdem die eigene Geschichte in ihm viele Jahre herumgewühlt und –gewütet hatte. Erst viel später konnte er darüber schreiben: die Nazis, der Krieg. Und dann, immer, die Mutter im Schloß, die Fischteiche, die wunderbarsten, wahnwitzigsten Essen, ein böses Märchen (oft spielt die Küche in Märchen die größte Rolle!), ein gutes Märchen, alles liegt da, ohne daß er hätte König sein wollen, egal von welchem Schloß. Vielleicht kommt dieses Imstandesein, auf Macht zu verzichten, obwohl man soviele schreibende Menschen um sich und das eigene Schreiben versammelt, daher, daß Fredy nicht Stellung nimmt. Das heißt, er nimmt oft Stellung, jedesmal, wenn ihm danach ist, aber er bezieht keine. Was immer er bezieht, eine Stellung ist es nicht in dem Sinn, daß er mit Waffen daraus hervorschießen würde. Er hat Menschen, auch mich, eben in Stellung gebracht, und die haben dann halt manchmal mit leeren Platzpatronen von leeren Plätzen aus (daß man die Macht meiden solle, war uns allen immer klar, ihm am meisten, er hatte sie ja auch brutaler erlebt als wir, die wir alle meist jünger waren – daher die leeren Plätze, die wir oft, gierig und noch mit überlaufenden Biergläsern und fettigen Wurstbroten in den Händen, besetzt hatten, nur damit sich kein andrer drauf setzte, und er hat immer drauf geachtet, daß sie auch wirklich leer waren, daß da keiner gesessen ist, den wir unsanft verdrängt hätten) wahllos, wie man so schön sagt, um sich, oft auch gezielt aufeinander geschossen, um ihre eigene Wortmacht in Gebrauch zu nehmen, die aber niemand gebraucht hat. Wer braucht schon eine Macht? Keiner braucht sie. Jeder will sie. Fredy ist, wie soll ich es sagen, nein, man kann es nicht sagen, man kann es aber auch nicht anders sagen: ein guter Mensch, in dem sich kein Böses auszubreiten wagt, insofern ist sein Gutsein kein willentlicher Akt, er bereitet eben auch für das Gute in sich den Platz nur vor, Platz nehmen muß es selber, und das hat es auch getan. Es hat, wie soll man es sagen, würdelos Platz genommen. Das Gute, das keine Würde braucht und auch keine Autorität. Es muß sich nicht durchsetzen. Fredy war das Warten, das Innehalten vielleicht?, der Zwischenraum, der in Graz, wo sonst, überall sonst, ruhig wartet, daß er gefüllt wird, und alles ist diesem Dichter und Dichtungsermöglicher willkommen, seine leichte Hand wird nie etwas kaputtmachen. Diese Dichtung wird halten. Es wird keine Überschwemmung geben. Diese Dichtung wird nicht halten, aber Fredy Kolleritsch wird trotzdem zu ihr halten und auf sie. Und es wird nicht einmal die Macht der Interpretation bereitgelegt. Nein: keine Macht! Offen sein für alles, heißt, auf die Macht von Interpretationen zu verzichten, denn Interpretation ist schon Macht, wenn (falls) sie einen Anspruch stellt. Fredy hat große Ansprüche an sein Schreiben und die (seine? Nein, nicht: seine!) Schreibenden gestellt, die er eingeladen hat, in den manuskripten zu publizieren. Aber diese Zeitschrift ist, wie gesagt (besser kann ich es leider nicht sagen, aber Fredy Kolleritsch hat mir immer nachgesehen, wenn ich etwas nicht besser sagen konnte), eben kein Bereitstellen eines Mediums, in das Machtansprüche einsickern konnten, denn er selbst hat keine gestellt. Er hat Ansprüche gestellt, aber keine, die mit Macht zu tun gehabt hätten. Darum, weil er auf sie verzichtet hat (und er hat auf sie verzichtet, weil er sie kennengelernt hat), hat er Macht auch so gut erkennen können, wenn sie sich ihm, die Flügel ihres Gewandes öffnend, wie ein Exhibitionist gezeigt hat. Was hätte die Macht von sich, wenn sie sich nicht zeigen dürfte? Kolleritsch hat sie aber auch im Anzug erkannt, sie brauchte sich gar nicht zu entblößen. Wo immer also diese Macht sich ausbreiten wollte, Meinungsführerschaft, Elitedenken, Arroganz, da hat er sie mit seiner leichten Hand abgebürstet, nicht nur von sich, von uns allen, gerade weil er von diesem entsetzlichen leeren Fleck so viel gewußt hat, von all den Techniken der Machtlosen (das sind die Schreibenden ja immer, trotz allem, was sie sich einbilden mögen), ihren Willen doch noch anderen aufzudrücken oder aufzudrängen, hat er all diese Bestrebungen entschlossen auf ihre Plätze verwiesen, die er alle bereitgestellt hatte, alle Plätze - eine Zeitschrift, die manuskripte, wo nur das, was geschrieben und gemacht wurde, etwas wie Macht sein durfte, aber eben etwas andres als Macht sein durfte. Niemand konnte sich etwas anmaßen, denn das Maß, das Fredy Kolleritsch für ihn bereitgestellt hatte, ließ vieles zu, es durfte sein wie es war, es durfte auch anders sein, aber auf einen Platz setzen, der noch nicht leer war, das durfte es nicht. Hätte man sich auf einen Platz gesetzt, der bereits besetzt gewesen war, dann hätte Kolleritsch diesen Usurpator jederzeit aus dem eigenen angemaßten Überfluß in die Leere zurückkatapultiert, weil er die größte Bedürftigkeit der Literatur genau kennt: die ständige Sucht, den ständigen Drang, sich selbst an die Stelle eines anderen (oder von etwas anderem) zu setzen. Das hat er, Fredy, ihr nicht erlaubt. Sonst hat er ihr allerdings alles erlaubt. (Fredy Kolleritsch zum 75. Geburtstag)
9.2.2006
Fredy
Kolleritsch
30.5.2020 Zur Erinnerung an Alfred Kolleritsch © 2020 Elfriede Jelinek zur Startseite von www.elfriedejelinek.com |