Das Gewicht der Hand

(Fredy Kolleritsch zum 75. Geburtstag)

Fredy Kolleritsch ist es gelungen, ohne Druck, ohne Zwang Menschen um sich zu versammeln. Er hat nie Macht ausgeübt, die schreibenden Menschen sind ihm zugeflogen. Die Leute sind einfach bei ihm zusammengekommen, und er hat sie bei sich behalten (nicht so wie wenn man etwas grade noch bei sich behalten kann und nicht von sich geben muß, ein nach Krankheit oft ersehnter Punkt im Dasein), sozusagen mit leichter Hand hat er die divergierenden Wesen und Kräfte an sich gedrückt, aber nicht so fest gedrückt, daß sich das, was sich bei diesem oder jenem Wesen  entfalten hätte können (die Möglichkeit hat er immer gesehen!), nicht wirklich entfalten hätte können.  Das ist ziemlich viel: keine Macht über eine Gruppe auszuüben, die man zusammengebracht hat. Man muß sich dazu vergessen können, sich selbst, aber dieses Sich Selbst Vergessen darf kein Verlassen der anderen sein. Man nimmt sich selbst leicht, aber die anderen werden, jeder nach seinem Wesen, erkannt und angenommen, damit sie ihre Wahrheit ausbreiten können. Kolleritsch hat seine eigene Wahrheit in seinen eigenen Büchern dann daneben hingelegt, mit erstaunlich leichter Hand (wieso war sie auf dem Weg so leicht geworden? Weil der Weg so lang war, daß die Hand Gewicht verloren hat? Jedenfalls an Gewicht hat sie nicht verloren, die Hand, und was sie schreibt wird auch nie an Gewicht verlieren können. Vielleicht weil sie verlieren kann, und weil sie jederzeit bereit dazu ist, wird sie nie an Gewicht verlieren), nachdem die eigene Geschichte in ihm viele Jahre herumgewühlt und –gewütet hatte. Erst viel später konnte er darüber schreiben: die Nazis, der Krieg. Und dann, immer, die Mutter im Schloß, die Fischteiche, die wunderbarsten, wahnwitzigsten Essen, ein böses Märchen (oft spielt die Küche in Märchen die größte Rolle!), ein gutes Märchen, alles liegt da, ohne daß er hätte König sein wollen, egal von welchem Schloß. Vielleicht kommt dieses Imstandesein, auf Macht zu verzichten, obwohl man soviele schreibende Menschen um sich und das eigene Schreiben versammelt, daher, daß Fredy nicht Stellung nimmt. Das heißt, er nimmt oft Stellung, jedesmal, wenn ihm danach ist, aber er bezieht keine. Was immer er bezieht, eine Stellung ist es nicht in dem Sinn, daß er mit Waffen daraus hervorschießen würde. Er hat Menschen, auch mich, eben in Stellung gebracht, und die haben dann halt manchmal mit leeren Platzpatronen von leeren Plätzen aus (daß man die Macht meiden solle, war uns allen immer klar, ihm am meisten, er hatte sie ja auch brutaler erlebt als wir, die wir alle meist jünger waren – daher die leeren Plätze, die wir oft, gierig und noch mit überlaufenden Biergläsern und fettigen Wurstbroten in den Händen, besetzt hatten, nur damit sich kein andrer drauf setzte, und er hat immer drauf geachtet, daß sie auch wirklich leer waren, daß da keiner gesessen ist, den wir unsanft verdrängt hätten) wahllos, wie man so schön sagt, um sich, oft auch gezielt aufeinander geschossen, um ihre eigene Wortmacht in Gebrauch zu nehmen, die aber niemand gebraucht hat. Wer braucht schon eine Macht? Keiner braucht sie. Jeder will sie. Fredy ist, wie soll ich es sagen, nein, man kann es nicht sagen, man kann es aber auch nicht anders sagen: ein guter Mensch, in dem sich kein Böses auszubreiten wagt, insofern ist sein Gutsein kein willentlicher Akt, er bereitet eben auch für das Gute in sich den Platz nur vor, Platz nehmen muß es selber, und das hat es auch getan. Es hat, wie soll man es sagen, würdelos Platz genommen. Das Gute, das keine Würde braucht und auch keine Autorität. Es muß sich nicht durchsetzen. Fredy war das Warten, das Innehalten vielleicht?, der Zwischenraum, der in Graz, wo sonst, überall sonst, ruhig wartet, daß er gefüllt wird, und alles ist diesem Dichter und Dichtungsermöglicher willkommen, seine leichte Hand wird nie etwas  kaputtmachen. Diese Dichtung wird halten. Es wird keine Überschwemmung geben. Diese Dichtung wird nicht halten, aber Fredy Kolleritsch wird trotzdem zu ihr halten und auf sie.  Und es wird nicht einmal die Macht der Interpretation bereitgelegt. Nein: keine Macht! Offen sein für alles, heißt, auf die Macht von Interpretationen zu verzichten, denn Interpretation ist schon Macht, wenn (falls) sie einen Anspruch stellt. Fredy hat große Ansprüche an sein Schreiben und die (seine? Nein, nicht: seine!) Schreibenden gestellt, die er eingeladen hat, in den manuskripten zu publizieren. Aber diese Zeitschrift ist, wie gesagt (besser kann ich es leider nicht sagen, aber Fredy Kolleritsch hat mir immer nachgesehen, wenn ich etwas nicht besser sagen konnte), eben kein Bereitstellen eines Mediums, in das Machtansprüche einsickern konnten, denn er selbst hat keine gestellt. Er hat Ansprüche gestellt, aber keine, die mit Macht zu tun gehabt hätten. Darum, weil er auf sie verzichtet hat (und er hat auf sie verzichtet, weil er sie kennengelernt hat), hat er Macht auch so gut erkennen können, wenn sie sich ihm, die Flügel ihres Gewandes öffnend, wie ein Exhibitionist gezeigt hat. Was hätte die Macht von sich, wenn sie sich nicht zeigen dürfte? Kolleritsch hat sie aber auch im Anzug erkannt, sie brauchte sich gar nicht zu entblößen. Wo immer also diese Macht sich ausbreiten wollte, Meinungsführerschaft, Elitedenken, Arroganz, da hat er sie mit seiner leichten Hand abgebürstet, nicht nur von sich, von uns allen, gerade weil er von diesem entsetzlichen leeren Fleck so viel gewußt hat, von all den Techniken der Machtlosen (das sind die Schreibenden ja immer, trotz allem, was sie sich einbilden mögen), ihren Willen doch noch anderen aufzudrücken oder aufzudrängen, hat er all diese Bestrebungen entschlossen auf ihre Plätze verwiesen, die er alle bereitgestellt hatte, alle Plätze - eine Zeitschrift, die manuskripte, wo nur das, was geschrieben und gemacht wurde, etwas wie Macht sein durfte, aber eben etwas andres als Macht sein durfte. Niemand konnte sich etwas anmaßen, denn das Maß, das Fredy Kolleritsch für ihn bereitgestellt hatte, ließ vieles zu, es durfte sein wie es war, es durfte auch anders sein, aber auf einen Platz setzen, der noch nicht leer war, das durfte es nicht. Hätte man sich auf einen Platz gesetzt, der bereits besetzt gewesen war, dann hätte Kolleritsch diesen Usurpator jederzeit aus dem eigenen angemaßten Überfluß in die Leere zurückkatapultiert, weil er die größte Bedürftigkeit der Literatur genau kennt: die ständige Sucht, den ständigen Drang, sich selbst an die Stelle eines anderen (oder von etwas anderem) zu setzen. Das hat er, Fredy, ihr nicht erlaubt. Sonst hat er ihr allerdings alles erlaubt.

 

Fredy Kolleritsch

Text abgedruckt im Falter 07/2006 vom 15.2.2006

Bild: www.stainzeit.at

15.2.2006


Das Gewicht der Hand © 2006 Elfriede Jelinek

 

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