Der faule Denkweg

Wenn ich zu schreiben anfange, dann brauche ich als erstes, zurückgeblieben wie ich bin, etwas wie völlige Ungewißheit sozusagen als Startgeld, damit ich endlich erfahre, wohin es mich führen wird, das Schreiben. Aber alles andre auch. Irgendwann nimmt das Geschriebene mich dann an der Hand (aber es geht mir nie zur Hand, das gemeine Ding!) und zerrt mich davon. Ich finde keinen Halt mehr, aber Halt machen kann ich auch nicht, es muß ja irgendwie weitergehen, es soll ja etwas geleistet werden. Mein Heimgenerator soll eine Art Taschenlampe antreiben, das wird er doch wohl noch schaffen!, die man immer bei sich haben, mit sich führen kann, und die sich in Wortflammenwerfer verwandeln soll, ja, so will ich es, so wäre es mir recht. Billig ist es nicht, aber dafür recht.  Man kann nicht sagen: Das ist nur recht und billig, jedes allein für sich würde mir schon bei weitem reichen. Sehr teuer dagegen ist das Denken. Lieber als Billigeres, das ich mir nicht leisten kann, hole ich mir etwas Teureres, das mich gar nichts kostet: Die Philosophie. Das Denken von anderen. Und ich mache es billig, das Denken, ich mache es sogar gratis, auch wenn ich es nicht billig gebe. Andre haben es mir gegeben, und ich versuche jetzt, selber damit einen Profit zu erwirtschaften. Schöne, feingeschnittene, klein vorgeschnittene Literaturpreise oder ganze Klumpen davon, zusammengebackene Publikationen, zu Knäueln gewickelte Hoffnungen, die vorher über Unterarme gespannt waren, begrabene Wünsche, denn Denken bedeutet, Wünsche zu beerdigen und etwas Schönes zu ihrer Leiche zu sagen, weil die es eh nicht mehr versteht, und man sagt es ohnedies erst, wenn sie unten und abgetan ist. Die tote Sprache, die nie wieder lebendig werden wird. Dafür haben wir sie ja umgebracht, wir Schreiber.

Elegant gehe ich dann von der Leiche weg, für die ich mich dermaßen schön angezogen habe. Verantwortungsgefühl schimmert durch meine durchsichtige Denkbluse hindurch, eine moralisch hohe Anmutung, mit der meine Anmut unmöglich Schritt halten kann. Ich habe das Denken nicht gegründet, aber da es nun mal da ist, ziehe ich mir diesen Schuh halt auch noch an. Doch es bedeutet mir: Nichts! Ich benütze es, eben wie eine Taschenlampe, die ich durch Treten zum Leuchten bringe, als Generator, als Schöpfer, der sich selber zur Eile antreibt, damit die Lampe etwas heller glüht in ihrem armseligen Glühstrumpf, in den ich meine noch armseligeren, mühsam gesparten Worte hineingeschmissen habe, die mir später völlig unkenntlich (wahrscheinlich eingeschmolzen) wieder ins Gesicht zurückgeworfen werden: Was unterstehen Sie sich! Sie sind doch keine Bettlerin! Nehmen uns die kleinen Münzen, in denen wir unser Leben in die Krankenkasse (aber krank werden wir schon  von selber!) eingezahlt haben, einfach weg! Machen etwas draus, das wir nicht verstehen. Die Philosophie ist eine kleine Münze wie jede andre auch, außer sie wäre groß. Etwas, das einem heimgezahlt wurde und jetzt zu Hause ist. Sie können es sogar anrufen! Aber wenn ich was Großes (sogar Scheine! Lappen!)  zum Ausgeben habe, brauche ich das Denken ja nicht mehr. Ich klaube sie also zusammen und gebe sie aus, die kleinen Münzen, damit ich mich nicht verausgaben oder gar aufsparen muß. Damit der Bettler, das Denken, nicht merkt, daß ich die großen Dinger, für die mir die Worte fehlen, für mich behalten habe. Sonst müßte ich ja selber denken. Sonst läßt es mich noch selber denken, das Denken! Wozu? Hab ich das nötig? Wo es doch andre viel besser gemacht haben. Ich kann mir dieses Geld aus dem Hut herausholen, und dann erkläre ich den Hut auch noch zu meinem. Ich habe ihn vor mich hingestellt, keine Ahnung, ob er wirklich mir gehört hat, nein, wahrscheinlich nicht, ich habe ihn ja noch nie zuvor gesehen.  Das Denken ist das, was man unter der Mütze hat, na, nehme ich also diesen Hut. Wo er schon einmal da ist. Das Denken hat alles gegründet, warum soll es nicht auch einen schönen Text von mir begründen? Begrünen werde ich ihn dann auch noch selber, und zwar so, daß man die Herkunft des philosophischen Ursprungs darunter nicht mehr sieht, so wie man ein ländliches Klohäuschen mit Grün zuwachsen läßt, damit man seine schreckliche Bestimmung erst merkt, wenn man es braucht, vorher nicht. Das Denken fehlt einem auch erst, wenn man es einmal braucht. Zum Glück ist das nicht oft. Dieses Bedürfnis hat man äußerst selten. Und auch mir haben es immer andre abgenommen. Ich nehme es aus ihren Armen in Empfang, das ist meine Aufgabe, denn ich bin die Empfangsdame des Denkens, jawohl, ich gehorche mir selber, denn diesen Job hat mir keiner angeschafft. Das, was in mir schlummert, will aufwachen, aber es braucht diesen Konzernzentrale mit seiner Marmorfassade und seiner undurchdringlichen Glasfront (sie schaut durchdringlich aus, ist es aber nicht), damit auch ich, der geborene Parasit,  eine gewisse Autorität ausstrahlen kann. Das Denken. Da fragt sich einer bei mir am Empfang also voran, in welches Denkzimmer er soll und wo das ist. Er hat es sich auf einen Zettel aufgeschrieben, wo er hin muß mit seinem Denken. Ich soll ihm Auskunft geben, aber ich will doch selber dorthin! Erst mal den Plan! Das Sein hat so vielfache Spuren im Treppenhaus hinterlassen, sie sind verschiedenfarbig, damit jeder der seinen folgen kann, in seine Abteilung des Denkens. Ich will sie alle, ich brauche sie alle. Ich sage also dem Menschen, der denken will: nicht mit mir! Folgen Sie nicht mir, und schon gar nicht unauffällig, folgen Sie lieber Ihrer eigenen Spur, nehmen Sie z.B. Rot, Sie werden schon sehen, was Sie davon haben! Das Denken ist vielspurig, und Sie werden schon merken, wie dringend Sie jede einzelne Spur brauchen werden, Sie wollen ja schließlich überholen, so wie ich Sie einschätze. Sie wollen überholen, obwohl nichts da ist, was Sie überholen könnten. Keine Konkurrenz! Sie wollen demnach vorwärtskommen, aber so oft und so viele wie möglich dabei überholen. Sie wollen sich anschauen, was ist, aber Sie brauchen auch das, was ich habe, eine inständige Bereitschaft sich auszuliefern, allerdings mit einer Botschaft, mitsamt der ganzen Botschaft, die ja schon selber was vertritt, keine Ahnung wen oder was; und zwar - wie demütigend - etwas auszuliefern, das vielleicht gar nicht ist. Schreckliches Denken, Bahn zum Abgrund! Aber Sie wollen ja in den dritten Stock. Na ja. Dort wartet angeblich das Wesen der Philosophie auf Sie. Wenn Sie es unten nicht gefunden haben, wartet es vielleicht oben, wer weiß? Warten Sie, ich komme mit, und wenn ich dort angekommen bin und dieses Wesen ist nicht zu Hause, dann stelle halt ich dieses Wesen dar, ich kann es Ihnen also vorstellen, wenn Sie unbedingt wollen. Dafür hätten Sie nicht diese Treppen steigen müssen! Weil ich mir überhaupt nichts vorstellen kann, kann ich vielleicht wenigstens das Wesen des Denkens vorstellen. Ich kann es mir zwar selbst nicht vorstellen, aber für Sie wirds schon reichen. Die Stufen hinauf führen direkt in die Geschichte des Denkens, daher geht eine Stiege hinauf und gleichzeitig wieder hinunter, je nachdem, wo Sie sich grade befinden und wohin Sie grade wollen. Die Stiege ist das Bleibende,  über das man kommt und geht. Man steigt sozusagen über das Gedachte drüber, man beachtet es nicht und steigt drüber hinweg. Man will es nicht verletzen, deshalb steigt man nicht direkt drauf, aber man benutzt es, indem man drübersteigt. Das Bleibende, also die Treppe, die Treppe ins Nichts, ist das Denken. Wer denkt, das ist unerheblich, eine Treppe kann man ja nicht anheben. Man kann sie sich aufheben, damit man wohin kommt, aber anheben kann man sie keinen Bruchteil eines Millimeters. Die Philosophie ist für mich etwas wie ein Fetzen, der fleißig Fußspuren auf der Treppe aufwischen und dabei doch nur: verwischen wollte. Und wenn aller Dreck aufgewischt und überall fein verteilt worden ist, merkt man erst: der ganze Mist, der das Tuch schön langsam steif macht, durchtränkt, immer wieder getrocknet, immer wieder naß gemacht, dieser ganze Dreck: Der ist es auch schon gewesen! Das war schon alles. Das war der ganze Bezug, den ich herstellen konnte, indem ich Zigarettenstummel, Papierl, zerknüllte Taschentüchter, Hundescheiße in mir aufgenommen habe. Zu meinem Schutz. Nur zu meinem Schutz! Hätte die Treppe einen Bezug gehabt, hätte ich den waschen können, und die Treppe darunter wäre sauber geblieben. So aber nehme ich vom Denken immer nur, was ich davon mit mir,  meinem eigenen Fetzen (den ich immer bei mir habe, er ist mit mir bereits vollständig zusammengewachsen, er ist quasi ein Organ von mir), abgewischt habe, und das zieht mich weiter, wahrscheinlich weil es so schwer geworden ist, egal ob hinunter oder hinauf, es zieht mich, es zieht, ob in Wahrheit oder in die Wahrheit, ob in eine Haltung oder aus einer Halterung wieder heraus. Und am Schluß, wenn ihm gar nichts mehr einfällt, schlägt meine Hand, über die ich flüchtig, aber wirksam diesen schmutzstarrenden Denkfetzen gewickelt habe, die Alarmscheibe vor dem Feuermelder ein, aber da gibts nur Scherben, stimmlos um sich schlagenden Krach, keinen neuen schöneren Ton; das war ein blinder Feuermelder, und er hat das Feuer auch gar nicht gerochen, er hat nur vorgegeben, das zu tun. Auch in dieser kleinen Glasscheibe, die ich da eingedrückt habe (und wie leicht hätte ich mir beim Treppensteigen und drauf Einschlagen auch noch die Hand zerschneiden können ohne den ekligen Fetzen drüber!) , zeigt sich die Art und Weise nicht, wie der Bezug zum Seienden bestimmt oder gestimmt ist (die Stimmgabel hab ich natürlich vergessen! Muß ich das nächste Mal aber wirklich mitnehmen), auch nicht die Art, wie das Seiende als solches beschaffen ist, dafür ist der Melder zu klein, er soll ja nichts zeigen, er soll Feuer anmelden!, und es zeigt sich auch nicht, welche Wahrheit hinter dieser Scheibe, zwölf mal zwölf Zentimeter, so ungefähr, wartet, um laut aufzuschreien, um es laut aufzuschreiben; bei mir schreien sie immer alle sehr laut, da kann man nichts machen, und ob diese Wahrheit nun schon beim Bau des Stiegenhauses gegründet wurde, ob sie überhaupt vielleicht der Grundstein bei der feierlichen Grundsteinlegung war, hier eingebaut, eingemauert, ein eingemauerter Alarm, ein eingebautes Geschrei, eine eingepaßte Sirene (Honoratioren in jeder Menge anwesend! Sie sind nämlich wirklich in jeder Menge irgendwo anwesend, keine Menge ohne Honoratioren) , das zeigt sich genauso wenig. Fazit: egal, ob etwas wahr ist oder nicht: Wenn ich sage, es ist wahr, dann ist es auch gleich die Wahrheit des Seins. Denn ich war die Erste, die diese Feuermelderscheibe jetzt - und natürlich hat dieser Verkehr nicht ungeschützt stattgefunden! -  eingedrückt hat. Ich bin die Ursache des Lärms, ich bin nicht die Verursacherin des Brandes, aber den Lärm, den hab ich schon selber gemacht, das Alarmismusgeschrei kommt von mir, nicht vom Denken, das Denken kann gar nichts dafür. Das hat nicht gezündelt, und das hat nicht gelöscht. Das will, daß endlich gelöscht wird. Aber nix. Der Mensch: das vernünftige Tier. Und jetzt rauf die Treppe, das hast du doch schon gelernt, Hund, daß man, auch wenn man vier Füße hat, die Treppe hinaufsteigen kann. Dafür hast du doch einen Wert eingebaut, der dir sagt, welchen Fuß du zuerst heben mußt, nein, nicht den hinteren. Da kommt womöglich etwas Falsches heraus, und das führt andere, die auch das Bein heben wollen, genau auf deine Pfütze drauf, auf eine sehr falsche Fährte. Aber auch die wird dann Denken sein, und wenn man es überspringt und gleich zum Ergebnis käme, man würde merken: Es funktioniert und füllt das Leben komplett aus. Und dort, wo einst ein Feuermelder war, ist jetzt nur noch eine glatte Betonmauer. Lückenlos. Fugenlos. Überall der weltlose, wertlose Mensch, unnütz, aber überirdisch, und was er auch tut - seine Zugehörigkeit zum Seienden kann sein Wesen nicht begründen. Er muß aufhören und sein Wesen abbrechen und am Empfang wieder abgeben. Und schauen Sie. Dort stehe ich in meiner Denkuniform, die denkbar schick ist, ich bin dort am Empfang und ich nehme nun wirklich jeden, das können Sie mir glauben.

11.4.2004


Der faule Denkweg © 2004 Elfriede Jelinek

 

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