Nachwort

Zu Bambiland und Babel

Essay von Bärbel Lücke

                    

                                         

                                         

Seit Benjamin und Adorno dürfte es keinen Denker
gegeben haben, der auf die Künste in vergleichbarer
Weise gewirkt hat. Was verstünden wir von Elfriede
Jelineks Texten, wenn wir sie nicht als eine wilde
Dekonstruktion unserer sprachlichen Gewohnheiten
zu lesen verstünden?

Martin Seel zum Tode von Jacques Derrida

 

 

1. Elfriede Jelineks  neues „Theater der Grausamkeit“ und seine vielfältigen ästhetischen Verfahren

 

Elfriede Jelinek schreibt, fast zeitgleich und noch während die Ereignisse im Fluss sind - gemeint sind der Terroranschlag vom 11. September 2001, der Krieg im Irak und die Folterereignisse im Gefängnis von Abu Ghraib -  ihr „work in progress“ Bambiland und drei Monologe, zusammengefasst unter dem Titel Babel (Irm – Margit – Peter), die nun als abgeschlossenes Bühnenwerk vorliegen. Sowohl Bambiland als auch Babel fungieren dabei nicht nur als Titel, sondern sind zugleich als erkenntnistheoretisch-poetologische Metaphern einer poeta docta-philosophica zu verstehen, deren Thema gleichsam in Fortführung von Heidegger über Horkheimer/Adorno bis zu Derrida, Vattimo und Agamben eine Kritik des abendländischen Rationalismus und seiner Überbordung, seines Umschlagens in den Mythos, mit poetischen Mitteln ist. So wird bei ihr politisch-philosophische „Theorie“ zum „Metaphernstrang“ (Jelinek), der sich durch den gesamten Text zieht, indem sie zum Beispiel in Peter sagt die Horkheimer-Adorno-These vom Umschlagen der Metaphysik in Mythos zitathaft-ironisch auf die Folterereignisse von Abu Ghraib überträgt und sie in Mythos – hier von Prometheus,  Apoll und Marsyas - verwandelt.

Als „work in progress“ lassen sich die Texte deshalb bezeichnen, weil Bambiland bereits im Dezember 2003 in der Regie von Christoph Schlingensief seine Uraufführung am Wiener Burgtheater erlebte. Elfriede Jelinek kommentierte damals Bambiland und die Aufführung folgendermaßen: „Dieser Text ist ein Amalgam aus Medienberichten zum Irak, und Schlingensief hat es mit dieser überwältigenden visuellen Ebene nochmals amalgamiert.“ Für Schlingensiefs Züricher ‚InstallationAttabambi-Pornoland. Die Reise durchs Schwein im Februar 2004 schrieb Jelinek zunächst die zwei Monologe Irm sagt und Margit sagt hinzu. Nun liegen diese Monologe mit dem noch später entstandenen Peter sagt als Babel vor - poetische Zeugnisse politisch-trivialmythischer Sprachverwirrung? Die Etikettierungen  von Bambiland als „Redeschlacht“ (Theater heute), von Irm sagt und Margit sagt als „rituelles Orgien- und Hysterientheater“ (Schlingensief/Homepage) und die obige Rede von der trivialmythischen Sprachverwirrung lassen etwas von der sprachlichen Wucht und auch dem ästhetischen Wagnis der Werke erahnen und zugleich etwas von der Schwierigkeit, mit den „dramatischen“ Ereignissen von Terror und Folter und ihrer sowohl kulturkritisch wie psychoanalytisch-poetischen „Ursachenerforschung“ als Bühnendrama umzugehen.

Bambiland und Babel bilden ein Sprachkunstwerk, das in konsequenter Fortführung Jelinek‘scher Absage an ein traditionelles Theater eine Vielzahl von Stimmen innerhalb von monologisch-chorischen - implizit-poly-logen - Textflächen entfaltet (das Paradox ist unvermeidbar), die die Auflösung einer diskursiv-regelhaften Dialog-Struktur von Theater bedeuten und so gleichsam der logisch-ontologischen Auflösung des einheitlich-rationalen Subjekts korrespondieren. Das möchte ich im Folgenden im Hinblick auf Artaud etwas genauer umreißen. Aber zunächst noch einmal zu Elfriede Jelinek. Bereits in ihrem frühen Essay „Ich möchte seicht sein“ von 1983 nämlich formuliert sie „Thesen“ zum Theater, die  sich, wie bei Artaud, gegen das Theater als Repräsentation der Realität, als „Abbild“ einer urbildhaften „Wirklichkeit“ wenden. Das bedeutet konsequenterweise auch die Preisgabe aller das traditionelle Theater konstituierenden Mittel wie (Charakter-)Darsteller, Dialog, Regie(anweisungen). Eine Absage zum Beispiel an den Schauspieler, der einen bestimmten Menschen darstellt (repräsentiert), und an eine Sprache, die Darsteller wie Zuschauer als göttlichen logos, das göttliche Wort des Autors als logos sprechend-hörend-denkend-erkennend rekonstituieren, ist zugleich eine Absage an ein erkenntnistheoretisch-ontologisches Repräsentationsmodell überhaupt, die Absage an die starke Metaphyik des logisch-vernünftigen Subjekts - aufs Theater übertragen. Das Theater soll nicht mehr Spiegelung (Re-präsentation) oder Abbildung von menschlicher Wirklichkeit und darin gespiegelter göttlich-vernünftiger Wahrheit sein, menschliche Rede soll nicht mehr ihren „Grund“ im einheitlich-göttlichen logos haben. Elfriede Jelinek „verabgründet“ solche Figuren und solche Rede: „Ich möchte nicht sehen, wie sich in Schauspielergesichtern eine falsche Einheit spiegelt: die des Lebens.“ Oder: „Wer kann schon sagen, welche Figuren im Theater ein Sprechen vollziehen sollen? Ich lasse beliebig viele gegeneinander antreten, aber wer ist wer? Ich kenne diese Leute ja nicht!“ Also: „Weg mit den Menschen, die eine systematische Beziehung zu einer ersonnenen Figur herstellen könnten!“ Wenn Jelinek dann in radikal-ironischer Zuspitzung ihres „Programms“ fragt: „Wie entfernen wir diese Schmutzflecken Schauspieler aus dem Theater, daß sie sich nicht mehr aus ihrer Frischhaltepackung über uns ergießen und uns erschüttern, ich meine überschütten können?“, so führen von hier einerseits Sinnlinien zu Foucaults berühmter Absage an den Humanismus, der den logo-zentrischen „Menschen“ gerade in der göttlichen Geist-Vernunft „zentriert“ („In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken“ – dessen (göttlich-logisches) Zentrum „verschwunden“ ist). Zum anderen führen diese Sinnlinien, modifiziert, zu Artauds „Theater der Grausamkeit“, das Derrida dekonstruiert - das heißt, Derrida zeigt Artauds Zerstörung der Repräsentation und zugleich ihre Wiederherstellung mit anderen Mitteln, diesen Widerspruch. Hier soll nur auf den Aspekt der Zerstörung eingegangen werden „Das Theater der Grausamkeit ist keine Repräsentation", es „verjagt Gott von der Bühne“; denn der „diebische Gott“ hat den Menschen seiner eigenen Stimme beraubt und ihm die seine „souffliert“ (eingehaucht – das Pneuma des logos) als sein „Double“, er hat ihn seiner Sprache, seines Körpers enteignet: „Artaud wußte, daß jede vom Körper abgefallene Sprache, die sich, um gehört oder empfangen zu werden, darbietet, als Schauspiel darbietet, sofort gestohlene Sprache wird. Bedeutung, die mir enteignet wird, da sie Bedeutung ist“ (Derrida, Die soufflierte Rede). Aber nicht nur Gott (der Charakter-Schauspieler, Autor, der Regisseur als Gott, in der Allmacht seiner Rede, seines logos) wird von der Bühne verjagt, sondern auch die Zuschauer aus dem Theater. Ein „passives, sitzendes Publikum, ein Zuschauer-, Konsumenten- „Genießerpublikum““ wird „ausgestoßen“; es wird aufgelöst wie die gesamte Repräsentation (Derrida, Das Theater der Grausamkeit). In Margit sagt, dem Monolog, in dem Freuds totemistischer Vatermord aus Totem und Tabu gleichsam metaphorisch „inszeniert“ wird – ich komme darauf zurück -, geschieht bei Jelinek wie bei Artaud ein Vatermord, und zwar (bei Jelinek in der Überblendung mit der Psychoanalyse) am Vater des logos: „Der Ursprung des Theaters, wie er wiederherzustellen ist, ist eine Hand, die erhoben ist gegen den widerrechtlichen Besitzer des Logos, gegen den Vater, gegen den Gott einer Szene, die der Macht der Rede und des Textes unterstellt ist“ (Derrida, Das Theater der Grausamkeit). Genau diese Auflösung von einheitlicher Figur und einheitlicher Rede (als Auflösung des einheitlichen Subjekts im einheitlichen Logos) erlaubt es, Elfriede Jelineks  Ästhetik schon ganz allgemein in die Nähe der Dekonstruktion Derridas zu rücken, was um ihrer Ästhetik willen etwas ausführlicher geschehen soll. Auch hier lassen sich nun zwei Sinnfäden verfolgen: Zum einen gilt es, die Dekonstruktion als metaphysikkritischen „Entwurf“ im obigen Sinne herauszustellen. Während für Deleuze/Guattari die Bindung an den metaphysisch fundierten Strukturalismus insofern bestimmend bleibt, als für sie Erkenntnis zwar nur über das Medium der Sprache möglich ist,  der „phallische Signifikant“ (Sprache) aber immer ein - notwendig leeres – „Zentrum“ (Lacans Poe-Analyse) braucht, steht die Dekonstruktion zwar in der Tradition des Strukturalismus (und des russischen Formalismus), aber durchaus in der Nähe zur philosophischen Hermeneutik, für die die Sprache ebenso unhintergehbar (der sogenannte linguistic turn) wie in ihrer Bedeutung unentscheidbar (d.h. unendlich verschiebbar, heterogen) ist; und sie ist von keinem „Ursprung“ (Zentrum) mehr eindeutig abgeleitet. Dennoch (oder gerade deshalb) ist die Dekonstruktion erklärtermaßen keine Theorie. Sie „widersteht“ jedem Code, jedem Regelwerk, jedem, wenn auch „leeren“ Zentrum (Deleuzes Woran erkennt man den Srukturalismus?). Sie ist keine Theorie (auch keine poststrukturalistische), „weder philosophisch, noch wissenschaftlich, noch kritisch (im Sinne der Literaturkritik [...])“, sondern sie leistet „Widerstand“, und zwar gegen jede „hierarchisierende Struktur, die in der Philosophie (als allgemeiner Metaphysik, Fundamentalontologie[...]) eine Mannigfaltigkeit [...] einer gründenden oder transzendentalen Instanz unterstellt“ (Derrida, Einige Statements und Binsenweisheiten...). Die Jelinek‘sche Auflösung des traditionellen Theaters als metaphysische Mimesis – also als Nachahmung einer der göttlichen Vernunftwahrheit korrespondierenden Welt-Vernunft - in plurale (chorische) Stimmen (statt Schauspieler-„Mimen“) und oszillierende Kippfiguren enthält aber noch ein weiteres dekonstruktivistisches Moment. Denn die pluralen Stimmen innerhalb der polylogen Sprachflächen sind wie eingewebte Fäden, die den Sprachteppich bilden, der Elfriede Jelineks Text ist. Denn Text bedeutet ja nichts anderes als Gewebe, und zu einem Text  bzw. Gewebe verknüpft, flicht oder „bündelt“ Jelinek die Stimmen, die dann sowohl Kippfiguren als auch vielfältige Sinnfäden werden, die sich allerdings nicht mehr zu dem „einen-einheitlichen“ Sinn des logos bündeln lassen, sondern sich gemäß der Dekonstruktion in der Verknüpfung und Verflechtung immer wieder  „verschieben“ – in ihrer Bedeutung, ihrem Sinn und ihrem Sein. Bei all diesen Ausdrücken (flechten, weben) handelt es sich um Derrida‘sche Metaphern des dekonstruktivistisch-performativen „Tuns“ (analog der strukturalistischen „Tätigkeit“ Roland Barthes‘): Derrida nennt es so („Tun“) in  Als ob ich tot wäre. Die Dekonstruktion, oft und immer wieder definiert, ist so einfach eine Handlung, aber wohl noch mehr eine Haltung, und zwar eine, die „widersteht“: Sie „widersteht“ der einen (zentrierten) Bedeutung, der einen Stimme (des logos), der einen göttlichen Präsenz in der Re-präsentation (z. B. auf dem Theater), dem einen Sinn der Geschichte, dem einen Gesetz des je einheitlichen Diskurses (etwa von Philosophie oder Literatur). Die Dekonstruktion zeigt die „Verwischung“ von (starren) Grenzlinien auf - ohne dabei Grenzen zu leugnen -, zum Beispiel zwischen Philosophie und Literatur, zwischen dem Ich und dem andern, dem „Bündnis oder Krieg“ (Derrida, Schibboleth. Für Paul Celan). Die Dekonstruktion beschreibt vielleicht die Jelinekschen ästhetischen Verfahren am sinnfälligsten, nicht zuletzt, weil sie auch die Grenzen zwischen Sinn und Unsinn (Parodie) „verwischt“ im differentiellen Spiel der Bedeutungen zum Beispiel im Wortspiel (das nach Stuart Sim „différance in operation“ ist – Spielen mit der Bedeutung). Die Dekonstruktion „hat sich übrigens mit einem Denken des Ausstands oder des Rests (de la restance) verbunden“ (Derrida, Einige Statements und Binsenweisheiten...). Elfriede Jelinek arbeitet nun mit genau solchen diskursiven „Resten“ aus Medien, Religion, Technik und Politik, die durch eben diesen Restcharakter qua De-Kontextualisierung nur noch „flottierenden“, supplementären Geltungsanspruch haben -„supplementär“ in der Bedeutung von „ergänzbar“ und „ersetzbar“-; und diese Reste werden mit karikierten Alltags- und antiken Mythen und mit teils wörtlichen, teils metaphorisch „transformierten“ Zitaten aus Werken der Psychoanalyse und Philosophie vermischt oder vermengt, sodass sprachliche Verschränkungsfiguren von Religion, Macht, Medien und Sexualität entstehen, die keinen „Figuren“ (dramatis personae) mehr entsprechen oder eindeutig zuzuordnen sind, sondern sich zum Text (als Gewebe) „bündeln“ (auch dies eine Derridasche Metapher) und in der Verschiebung und Verflechtung neue, vorher nicht entscheidbare, unvorhergesehen-ereignishafte Bedeutungen freisetzen. Wenn man dennoch von Figuren (in dem differentiell verschobenen Sinn der Dekonstruktion) sprechen kann und muss, dann deshalb, weil wir es zwar mit vexierbildhaft angelegten Kippfiguren zu tun haben (der Begriff stammt aus der Wahrnehmungstheorie), die aber dennoch jeweils mehr oder weniger deutlich identifizierbar werden - um identifizierbar zu sein quer duch den Text collagiert werden müssen - und die sich an uns, den Leser, wenden - fragend, appellierend -, so dass sich trotz aller sprachlich-formalen und figuralen Auflösungsstrategien ein Potenzial aristotelischer Katharsis entfalten kann - Schrecken, Mitleid, Schmerz – , was Jelinek selbst – wie anders als ironisch - in Peter sagt  thematisiert. Als nämlich „Gott Bush“ (vom Rad) stürzt, heißt es:„Das hätte Mitleid und Furcht und Entsetzen erzeugt, damit wir von diesen Regungen befreit werden und niemals mehr andre mit Mitleid, Furcht und Entsetzen verwöhnen können.“ Es entsteht so, über die Ironie, über die Sprach- und Wortspiele, nicht zuletzt ein reflexives Potenzial, das über die Ironie der Erzählhaltung einer immanenten Sprecherstimme eingeholt wird, ganz im Sinne der romantischen Ironie als Selbstreflexivität der Kunst, die wiederum die Reflexion des Lesers freisetzen kann und soll. Zur Katharsis im Jelinek‘schen Sinne (und vielleicht im aristotelischen?) gehört die Ironie, die Komik, die das Lachen freisetzt, und sei es  ein noch so bitteres Lachen, dazu. Wenn Jelinek in Bambiland den Irak-Krieg des George „Jesus“ W. Bush z.B. als Kriegs- und Raubüberfall mit poetischen Mitteln entlarvt, bei dem es um Öl und Profit geht, lässt sie ihre Peter-GI-Söldner-Bush-Künstler-Kippfigur sagen: „Schauen Sie, das ist im Prinzip so, und nur wir haben echt Prinzipien: Wir sind das einzige Land, wo der einzelne Mensch noch wichtig ist, weil jeder der einzige ist.[...] Jeder Mensch zählt. Jeder Mensch zählt sein Geld. Der eine mehr, der andere weniger. Dick Cheney mehr, wir weniger.“ Jelinek geht es um keine metaphysisch-jenseitigen Wahrheiten mehr (Logos, Geist-Vernunft, Gott), wohl aber um die angemaßte Selbst- und Fremd-Divinisierung von mehr-oder-weniger-historisch-diesseitigen Zeitgenossen, die sie in dieser Anmaßung bloßstellt. Und so holt sie die kathartische Wirkung auch über das Wortspiel im obigen Sinne ein (was schon Samuel Beckett tat), über das Spiel mit der Bedeutung, also mit Bedeutungsverweisung und –verschiebung: Entlarvt wird im obigen Beispiel z.B. unser „Prinzip“, dass der Mensch nur „zählt“, wenn er Geld „zählen“ kann, und in der Enthüllung dieser so simplen wie unbeliebten „Wahrheit“ können wir vielleicht lachen im Sinne Umberto Ecos: „Vielleicht gibt es am Ende nur eins zu tun, wenn man die Menschen liebt: sie über die Wahrheit zum Lachen zu bringen, die Wahrheit zum Lachen bringen, denn die einzige Wahrheit heißt: lernen, sich von der krankhaften Leidenschaft für die Wahrheit [die ewige, die religiöse – wie bei den Selbstmordattentätern, von denen auch noch die Rede sein wird, B.L.] zu befreien.“

Wenn also gilt, dass Elfriede Jelinek mit Ironie, Wortspiel, grotesken Metaphern und Synästhesien, Kippfiguren, diskursiven Resten und fremden Stimmen arbeitet, so gibt es doch immer eine ganz eigene sprachliche Form, die über die herkömmliche sprachliche „Collage“ hinausgeht, auch über das Verfahren des Sprachteppich-Knüpfens: Denn es gibt auch den nicht-enteigneten Ton einer immer mitschwingenden mitleidenden quasi-auktorialen Künstler-Autor-Stimme („Es ist grauenhaft, sich das Grauen vorstellen zu müssen“), die das Amalgam aus Medien, Mythen und Metaphysik-Kritik zum philosophisch-poetischen „Moralkunstwerk“ (Peter sagt) transzendiert. Dieses „Moralkunstwerk“ (gleichsam ihres Gesamtwerks) ist verfasst von einer „Ironikerin“ (Rorty), die die Kontingenz aller Ereignisse von Terror, Krieg und Folter gegen jede teleologisch-theologische (also rational-ökonomische) Fundierung von Geschichte (ob als Benjaminschen Messianismus oder Fukuyamasches „Ende der Geschichte“ als End(Heils)zustand der Demokratie) im Ereignis des Textes, im Text-als-Ereignis, sichtbar macht und erlebbar werden lässt. Denn das „Ereignis“ ist für Jelinek immer schon Zeugnis seiner eigenen Wiederholbarkeit, das jeweils nur als „Wiederkehr, Heimsuchung und Spuk erlebt werden kann“ (Derrida). Dem „Spektralen“ bei Derrida, seinen „Gespenstern“, korrespondieren die Jelinekschen Wiedergänger und Zombiefiguren, Repräsentanten des „Vampirhaften der Geschichte“ selbst (Jelinek). Und so ist ihr Schreiben, die Ethik ihrer literarischen Ästhetik, immer auch der Versuch, „das einzuschreiben, was sich eigentlich nicht einschreiben lässt: den Bruch, die Spaltung, das Ereignis“ (Wolfgang Welsch).

 

 

2. Die Ereignisse von Terror, Krieg und Folter und das „Ereignis des Textes“ als „Moralkunstwerk“  -  wie vom  „Ereignis“ schreiben?

 

In Bambiland setzt Elfriede Jelinek eine solche „Spaltung“ - als Verdoppelung, Vervielfachung? - mit Bezug auf Aischylos‘ Perser gleich an den Anfang des Textes, als spalte oder verdoppele sie auch das Ereignis selbst – wobei zu fragen wäre, um welches Ereignis es sich dann wohl handelt (in Peter sagt wird zum Beispiel auch das Ereignis des Trojanischen Kriegs noch substrathaft unterlegt, was schon Baudrillard, allerdings mit Bezug auf den Zweiten Golfkrieg, tat): Denn der Krieg des Perserkönigs Dareios gegen Griechenland im fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, seine Niederlage und die Fortsetzung des Krieges durch seinen Sohn Xerxes wird in der Überblendung der Ereignisse und Stimmen sofort als Zweiter und Dritter Golfkrieg von Vater und Sohn Bush  lesbar (und umgekehrt) und lässt so Geschichte eher als (Nietzsche‘sche) Wiederkehr des Immergleichen erscheinen, allerdings im Sinne einer differentiell-hermeneutischen Verschiebung ihrer (sinnhaften) Bedeutung. Derrida weist in seinem Essay Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen darauf hin, dass die Rede vom Ereignis auch immer mit „Überraschung“, mit „Unvorhersehbarkeit“ zu tun habe (also gerade nicht mit der „Vervielfältigung“ der Ereignisse als Wiederkehr des Immergleichen). Ich möchte hier zunächst den Derrida‘schen Titel als Frage verstehen – unabhängig vom Paradox des Sprechens vom „Unvorhersehbaren“: Wie von den Schrecknissen der Ereignisse sprechen in einer enteigneten, das heißt von den Medien enteigneten, zum Teil entstellten Sprache? Denn ich zitierte ja schon anfangs Elfriede Jelinek, die Bambiland (die „Thematisierung“ des 11. September und des Irak-Kriegs) „ein Amalgam aus Medienberichten zum Irak“ nannte. Wenn Baudrillard schon 1990 in Die Transparenz des Bösen sagt: „Die von unserer Hypermoderne hervorgebrachte Gewalt ist der Terror. Eine Simulakrum-Gewalt: Sie entsteht nicht aus Leidenschaft, sondern kommt vom Bildschirm, sie ist von derselben Art wie die Bilder“ (und um die Bilder, die Bilder der Folter wird es im Peter gehen), so könnte man schließlich doch noch glauben, alle obige Rede von der Absage der Jelinek‘schen Kunstwerke an die „Repräsentation“, von der Absage an die „Mimesis“ in der Tradition seit Nietzsche sei zwar nun ihres metaphysischen Ursprungs beraubt, dafür aber sei sie - und das sei beinahe schlimmer - mimetische Imitation der „unmoralischen“ Medien. Und als wolle sie dem in ihrer Ironie noch Vorschub leisten, sagt Elfriede Jelinek im „Vorspann“ zu Bambiland: „(Meinen Dank an Aischylos und die „Perser“ [...] Von mir aus können Sie auch noch eine Prise Nietzsche nehmen. Der Rest ist auch nicht von mir. Er ist von schlechten Eltern. Er ist von den Medien.)“ Elfriede Jelineks Texte aber sind gerade nicht und niemals, auch nicht Bambiland/Babel, imitatio des korrupten Bestehenden. Sie sind es, ganz allgemein gesagt, schon deswegen nicht, weil sie in der Vielfalt ihrer ästhetischen Mittel, nicht zuletzt auch durch die Appellstruktur der vorliegenden Texte, die Ereignisse selbst transzendieren – nicht im Sinne einer Überhöhung, sondern im Derrida‘schen Sinne einer Literatur als Ethik der Gabe. Und damit führt uns der oben zitierte Essaytitel Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen nun zum Ereignis des Textes selbst, der nach Elfriede Jelineks  - und Derridas - literarischer Ethik eine „Gabe“ an den Leser ist, und das heißt: Er, der Text, ist eine Gabe ohne Kalkül und (ökonomischen) Tausch von Gabe gegen Gegengabe, und das kann zum Beispiel bedeuten, dass der Autor den Text „gibt“, der Leser im Gegenzug (als „Gegengabe“) den „Kommentar“ im (vermeintlich-beglaubigten) Sinne des Autors (so dass er sagen und beurteilen will,  was der Autor „gemeint“ und folglich „getan“ hat). Elfriede Jelineks Stimmen aber - nicht einmal die der quasi-auktorialen Autor-Künstler-Stimme - beglaubigen nichts. Sie gehen keinen Vertrag auf Treu und Glauben mit dem Leser ein, dass ihnen der Autor-Künstler die „Wahrheit“ sage und nichts als die Wahrheit. Sie kündigen den „fiduziären [treuhänderischen] Vertrag“ mit dem Leser, der sich auch nicht auf ihn berufen kann. Denn die Jelinek‘schen Stimmen kippen gleichsam auch immer wieder um (wie die Figuren), nicht nur in Ironie und schwer fasslicher Komik, sondern auch in andere Stimmen, mit denen sie schillernd verschmelzen, in einem ständigen ambivalenten Oszillierungsprozess (darin korrespondieren sie dem Oszillieren der Foucault‘schen Machttheorie, von der noch die Rede sein wird). Sie sind wahrhaft unzuverlässige Erzähler (Martinez/Scheffel), die dem Leser das Sich-Wiegen-in-Sicherheiten verweigern - und immer handelt es sich bei Jelinek ja um Narration (Erzählung). Jelineks Erzähler-Stimmen beglaubigen, wie schon gesagt, nichts, nicht einmal da, wo sie die Moral im Munde führen. Die Peter-GI-Söldner-Apoll-Marsyas-Autor-Künstler-Kippfigur sagt zum Beispiel: „Die Moral sollte auch selber die Hauptrolle übernehmen, denke ich. [...] Es kämpfen auch viele andre darum, die Hauptrolle zu bekommen, sie wollen auch einmal im Scheinwerferlicht stehen, aber nicht bei mir, nicht mit mir, in den Lichtkegel habe ich die Moral jetzt fest angestellt und angenagelt [...]“; denn die Moral: „Das ist mein Thema“ - und in Jelinek‘scher Parodie erscheint die Moral dann zugleich als saturierter Arbeitnehmer („fest angestellt“) und als zum Objekt degradiertes misshandeltes Gefangenen-Opfer („angenagelt“): die Parodie - die einzige Möglichkeit, in der Moral noch zu retten ist? Die einzige Möglichkeit, in der die verlogene Moral der Mächtigen und Frommen noch zu entlarven ist? Der gegen jede Gefühlsregung immunisierte Söldner-Soldat-Täter-Opfer spielt schon gleich zu Beginn auf seinem „intakten Immunsystem“, das zugleich die kriegslüsterne Leier-Litanei von Apoll-Bush und die abgeschnittene Penis-Flöte des geköpften, gehäuteten Söldner-Marsyas ist, der am Brückengeländer von Falludscha baumelt und durch dessen Rippen-Lyra der Wind spielt - der Zombie als Täter-als-Opfer (auf den Apoll-Marsyas-Mythos werde ich noch genauer eingehen) . Und dann heißt es (und wer spricht?): „Ich sage Ihnen, nichts spornt so an wie das Töten [...]. Also wenn das kein Moralkunstwerk ist, dann weiß ich auch nicht! Es ist der Prototyp des Moralkunstwerks [...]. Es ist total moralisch, das Werk. Es ist unnötig, aber es wurde mir befohlen, diese Leine um den Hals eines Gefangenen zu legen. [...] Das Moralkunstwerk ist ja immer schon fertig, bevor man noch damit anfangen könnte. Und wie begründen wir unsere Moral? Wir dachten einfach, es sehe lustig aus. Ja, das sagen wir.“ Die Stimme, die Figur kippt wie ein Vexierbild vom Peter-Autor-Künstler-Apoll-Marsyas zu Lynndie-Athene-England, „diese unwahre Göttin“. Und schließlich der surrealistische Schrei - und Jelinek nimmt von Dali-Bunuels zerschnittenem Auge (Ein andalusischer Hund) über Magrittes Bild Ceci n’est pas une pipe bis zur écriture automatique viele Elemente der surrealistischen Traumlogik als Sprache des Unbewussten auf, als Verweisung auch auf die poetische Psychoanalyse der mittleren Monologe (Irm - Margit). Es ist der Schrei, den Peter-Marsyas-Künstler-die Pfeife(-Magrittes) ausstößt, weil man ihn von seinem Bild getrennt hat, den Gegenstand von seinem Bild – wie das Wort von seinem Objekt, wie Marsyas von seiner Haut, wie die Folterknechte von ihren Gefühlen, ihrem Inneren, das zum totalen Außen geworden ist in einem  dekonstruktivistischen (weil er wieder verschoben werden wird) Chiasmus als Umkehrfigur (Paul de Man). Denn die Folterknechte und Knechte der Folterbilder sind selbst nur noch „Auge der Kamera“, nur noch Prothese ihres Sehens und Erkennens. Deshalb auch ruft Peter-Autor-Künstler zum Bildersturm auf, zum Sturm gegen die Bilder-Manie und gegen die Bilder selbst, ohne die man nicht „wirklich“ wäre, die allein die Existenz zu beglaubigen scheinen. Und er schreit auf gegen die Bilder von Folter und Mord, die ohne das prothesenhaft-verstümmelte, seelenlos-apparathafte Sehen (auch seiner selbst) vielleicht nicht als elektronische Postkarten in die Welt verschickt worden wären: „Alle Betrachter werden gezwungen werden, sich an diese Bilder zu klammern, und wenn sie es nicht tun, dann klammern sich die Bilder eben an sie.[...] Stattdessen schreie, nein schreibe ich halt mein übermorgiges, übermoralisches, kunstsaures Moralinwerk, was bleibt mir übrig, an meiner eigenen Stelle, die man mir ebenfalls genommen hat, ein Bild hat sie eingenommen [...].“ Und deshalb gilt vom Schrei des Peter-Autor-Künstlers: „Was ich hier aufschreie, ist darauf ausgerichtet, daß Sie wie ein Kompaß immer dorthin zeigen, von wo, wie gesagt, die Post abgeht an die Ahnungslosen.“ Elfriede Jelineks Texte sind, das scheint nach all dem offensichtlich, auch noch als „Moralkunstwerke“ „Falschgeld“. Es ist Jacques Derrida, der diesen Begriff anhand von Baudelaires kleiner Erzählung La fausse monnaie auch für die Literatur - als einer Ethik der Gabe - fruchtbar macht. Ein kleiner Abstecher in den Text sei deshalb hier gestattet: Das falsche Geldstück, das bei Baudelaire mit Absicht einem Bettler gegeben wird, ist eine zwiespältige Gabe. Der moralisierende (verurteilend-richtende) Freund des Gebers, zugleich der Erzähler, resümiert: „In meinem elenden Gehirn [...] entstand erstmals die Vorstellung, ein solches Verhalten sei nur entschuldbar, wenn es dem Verlangen entsprang, in dem Leben dieses armen Teufels ein Ereignis zu schaffen, vielleicht gar die verschiedenen möglichen Folgen  zum Schlimmen oder Guten festzustellen, die ein falsches Geldstück in der Hand des Bettlers nach sich ziehen kann.“ Und hier die „Erzähltheorie“ in nuce: Wie nämlich das falsche Geldstück den Bettler zum reichen Mann machen oder ins Gefängnis bringen kann, so kann jeder Text  – als mögliches Falschgeld – für den Leser zum Ereignis werden, das in ihm weiterwirkt; denn: „Der beglaubigte Unterzeichner setzte ihn [den Text, B.L.] einer Dissemination ohne Rückkehr aus“: Der Text zerstreut sich, wie Samen, der im Leser fruchtbar werden kann. Und damit dies möglich wird, trennt sich der Autor (Unterzeichner) von ihm ab, sein Schreiben wird zum posthumen Schreiben schon zu Lebzeiten in einem dekonstruktivistischen Als-Ob -  als ob er, der Autor, „tot wäre“ (Derrida). Und: „Keine Gabe [und keine Vergebung, B.L.] ohne das Eintreten eines Ereignisses, kein Ereignis ohne die Überraschung der Gabe“. Die so verstandene „Gabe“ ist dann vielleicht das Erleben der Texte von Elfriede Jelinek so, dass sie ermöglichen, die Schreckensereignisse besser zu verstehen, wo man glaubt, nichts mehr verstehen zu können, oder auf andere Weise „mitzuleiden“, als das bei den Medienberichten und -kommentaren möglich ist – auch wenn das Verstehen Mühe macht. Baudrillard spricht zwar den Medien den Tauschcharakter ab - das macht aber ihre Mittel nicht etwa denen der Literatur ähnlich, die nicht Tausch im oben beschriebenen Sinne, sondern eben „Gabe“ ohne „Rückkehr“ (zum Autor) ist. Jeder kennt den Ausspruch McLuhans „Das Medium ist die Botschaft“; Baudrillard erweitert das um eine wichtige Folgerung daraus (und auch darin wird ihre Differenz zur Literatur deutlich): „Nicht als Vehikel eines Inhalts, sondern durch die Form und Operation selbst induzieren die Medien ein gesellschaftliches Verhältnis, und dieses Verhältnis ist keines der Ausbeutung, sondern ein Verhältnis der Abstraktheit, der Abtrennung und Abschaffung des Tauschs. Die Medien sind nicht Koeffizienten, sondern Effektoren von Ideologie“ (Requiem für die Medien) – das gilt auch für Peter sagt und die Medien-Folter-Bilder, in denen der Ideologiecharakter der Medien, dessen eine Konsequenz die Folterbilder sind, transparent gemacht wird. Das gilt auch für den Krieg in den Medien, das gilt auch für Bambiland .

Wenn nun Bambiland die Ereignisse des Dritten Golfkriegs gerade unter diesem Titel entfaltet, so nimmt Jelinek auch die Baudrillard‘sche Kritik an Amerika als Disneyland (Die Präzession der Simulakra) auf, die eine infantilisierte Gesellschaft zeigt, die den Zweiten Golfkrieg als reines Medien-Spektakel und War-tainment erlebte, so dass die Ereignisse hinter der „banalen Omnipotenz“ der Bilder ganz zum Verschwinden gebracht wurden, d.h. das Ereignis des Krieges selbst hatte nicht stattgefunden. Bei Jelinek wird das Baudrillard‘sche Disneyland zum Bambiland, weil sie die Komponente sowohl ökonomischer als auch religiös-rationaler Motiviertheit des Krieges in der Metapher von Disney-„Bambi“ zusammenfasst. Die Ereignisse des Krieges verschwinden bei ihr, im Gegensatz zu Baudrillard, aber gerade nicht, sondern werden gleichsam durch Patriot Act und Patriotismus zu der einen Wahrheitsstimme („Wir sind ein Amerikaner“) von „Jesus W. Bush“: „Jesus zum Beispiel und seine Jünger waren eins, weil sie sich so lieb gehabt haben wie die Rehmutter ihr Kitz. Wie wir unser Land.“ In Peter sagt werden dann die Schreckensbilder der Folter selbst einer total digitalisierten Entertainment-Gesellschaft den abgründigen Spiegel ihrer Werte vorhalten: Am Leitmotiv „And they took pictures of everything“  stellt Jelinek mit den Folter-Bildern „im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit“ die Gesellschaft vor ihr Kunst-und-Moral(als Kunst-Moral)-Tribunal. Elfriede Jelinek, das wird schon deutlich, kann mit Bambiland Baudrillard nur immanent zitieren. Ihr Text gehorcht der Ereignis-Logik Derridas, der im oben zitierten Essay Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen Baudrillard vehement widerspricht, indem er gegen alle mediengemachten Ereignisse (Simulakren) die „realen“ Toten setzt. Und damit betont er, dass die „unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen“, genau das ist – ihre Unsagbarkeit: „Ich würde sagen, daß man die Mechanismen [...], das Televisuellwerden dieser Ereignisse oder ihre Verwandlung in Simulakren, unendlich analysieren müsste. Man muss das auf politisch-historischer Ebene tun, ohne, wenn möglich, dabei zu vergessen, daß Ereignishaftes stattgefunden hat, das sich auf keinen Fall reduzieren läßt. [...] Das ist das Unsagbare: das sind die Toten, zum Beispiel die Toten.“ Jelinek verwandelt dieses Unsagbare in Dichtung, in Sprachkunstwerke, die „Moralkunstwerke“ sind. Den Zombie-Söldner-Peter-Marsyas-Künstler lässt sie schließlich sagen: „Moral Moral, wo ist dein Stachel, ich sehe es nicht, wo bist du für mein Kunstwerk jetzt hin?“  Und so ist ihr Bambiland-Babel-Projekt ein zugleich archaisches und - im Sinne von Derridas „kommender Demokratie“ und Moral (Schurken) - utopisch-moralisches Eingedenken der Toten der Kriege (aller Kriege, über Troja und die Perserkriege bis zum Irak-Krieg) und ein Eingedenken aller gemordeten und noch lebenden Terror-, Folter- und Rassismus-Opfer (vom Holocaust über den 11. September bis zu Guantanamo und Abu Ghraib). Genau damit schafft sie mit ihren Texten Ereignisse für die Literatur und unvorhersehbare, unentscheidbare Ereignisse für den Leser im Sinne einer Literatur, die eine Ethik der Gabe ist.

 

                                                                 

Vielfalt und Wanderung der Sprachen, gewiß, aber in
der Sprache selbst finden sie statt. Dein Land, sagt
dieses Babel, ist nach allen Richtungen ausgewandert,
wie die Sprache.“

 Jacques Derrida, Schibboleth. Für Paul Celan

 

3.      Bambiland  – sprachliche Verschränkungsfiguren von Medien, Krieg, Religion, Sexualität  und Babel (Peter sagt)– textuelle Überblendungen und intertextuelle Bezüge

 

Der Bezug auf Aischylos‘ Perser in Bambiland lässt Geschichte kurz als „Retro-Szenario“ (Baudrillard) aufleuchten, in dem das Ereignis des Irak-Kriegs auch auf seine perfide „Geschichtsvergessenheit“ hin transparent wird, und das heißt, dass Geschichte gerade nicht  mit dem „Sieg“ westlicher Demokratien (mit dem Sieg Amerikas im Kalten Krieg) zu ihrem „Ende“ gekommen ist – weder im Sinne Fukuyamas noch im Sinne quasi-Hegelscher Vollendung des objektiven Geistes: Jelinek desavouiert, nein, zerschlägt solchen metaphysisch-geschichtlichen Systemglauben am Beispiel des Terrors, des Irakkrieges, der Folter und der Folterbilder als Kulmination phallogozentrischer Technik- und religiös-motivierter Machtwahn-Metaphysik, als Raubzug einer mehr theokratisch erwählten als demokratisch gewählten Polit-Trinität namens Bush-Cheney-Rumsfeld, Beherrscher nicht nur des Volkes, sondern auch „allmächtige Herrscher“-Götter über  die Medien, die selbst schon quasi-religiöse Weihestätten sind, und über das allmächtige Kapital, zum Beispiel über Firmen wie Halliburton, Price Waterhouse oder Blackwater (Sicherheits- und Söldnerdienste). Die Stimme im polylog-integrierten Chor von Bambiland spricht (und wessen Stimme ist es? Die eines amerikanischen Patrioten? Die eines martialischen TV-Idioten irgendwo und überall auf der Welt?): „An unser Haus können Sie den Brand legen, an unsere Götterbilder können Sie auch den Brand legen, aber nicht an unser Öl und nicht an unseren Fernseher, den behalten wir, unsren Altar, der darf nicht spurlos fort, der ist doch die Spur! Der ist unsre Leuchtspurmunition [...].“ Die „Leuchtspurmunition“ scheint gleichsam zu bekräftigen, dass es eine „strategische Illusion“ ist, an eine „kritische Ver-Wendung der Medien zu glauben“ (Baudrillard); sie sind vielmehr Fetisch geworden,  „wahre“ Kultstätte der „Ware“ Religion. Denn die „wahre“ Religion ist die vollkommene Vergottung des Mediums Fernsehen, das zum eigentlichen „Altar“ geworden ist, auf dem der kritische Verstand, die Rationalität, geopfert wird. Und da der Bildschirm zum eigentlichen Bild Gottes wird, ist es nur konsequent, wenn der Chor (eine Stimme im intergrierten Chor) bestätigt: „[N]ur wir kennen Gott und haben erkannt, wir wollen ihn nicht, wir Verführer von niemand, wir Verführer des Bildes allein. Wenn wir ins Haus kommen, dann drehn wir das Bild sofort auf.“ Ganz ähnlich wie Baudrillard sieht auch Derrida in der Virtualität der Medienbilder die große Gefahr des Realitätsverlustes, die die Menschen eher zu Verführten des Bildes macht: „Wenn man die Virtualisierung und Spektralisierung, das Gespenstischwerden des Bildes oder der Wahrnehmung denken will, die sich heute auf dem Feld der Technik vollziehen, wenn man das virtuelle Ereignis denken will – denn im Grunde ist die Frage „Ist es möglich vom Ereignis zu sprechen?“ auch die Frage nach der Virtualität [...], dann müssen wir unsere Logik des Möglichen und des Unmöglichen außer Kraft setzen.“ (Derrida) Dass sich von hier aus ein Bogen zurück zu diesem schon anders fokussierten Text schlagen lässt, scheint  zu bestätigen, dass wir in einer virtuellen Welt des Bildes gleichsam gefangen und gefesselt sind wie in der platonischen Höhle (die auch ein erkenntnistheoretisches Problem als Wahrheitsproblem aufwirft). Und als habe das Gebot des hebräischen Gottes „Du sollst dir kein Bildnis machen“ zurückgeschlagen, manifestiert sich Gott nun in den vielen „Göttern“, die an dem „Altar“ Bildschirm  verehrt werden und die ihn unendlich supplementieren (ergänzen und ersetzen). Für den Chor der „Gläubigen“ heißt einer von ihnen z.B. Cheney: Auch ihm wird gehuldigt als dem „heiligen Herrn“ – und den „Wein“ zur heiligen Eucharistie liefert er gleich mit in Form des „golde[nen] Saft[es]“ irakischen Öls; denn: Es „wird gewinnen Halliburton“ (im Krieg der Götter und des Geldes). Und wenn Bush auf „Camp David“ gegen „Goliath“ Blair antreten muss - ironisches Wortspiel -, so rückt der Chor das wieder zurecht: „Jesus“-Bush bleibt der gute „Hirte“, der die „Herde“ vor sich hertreibt, sein Volk, das die Nietzsche‘schen „Herdentugenden“ besitzt, weil es „so lieb gegen die Sandneger kämpft“  -  auch auf die wird zurückzukommen sein. Dass der „gute Hirte“ auch zum „Führer“ werden kann, dem das Volk als „Herde“ oder besser „Horde“ folgt, macht eine andere Stimme des Chores geltend: „Voll Blutgier in den Augen jagt ein jedes Volk vorwärts, dem Führer hinterher“ – und in Anspielung an Israel: „Ich glaube, von den Juden geht das alles aus, die geben keine Ruh“, und: „Die trifft es immer, die Juden. Die haben das so oft erlebt, die merken das schon gar nicht mehr [...]. Bitte, die Deutschen sind wieder im falschen Klima.“ Lässt Aischylos den Krieg des Vaters und des Sohnes konsequent ganz im Irdisch-Historischen, merkt man dem Chor der „amerikanischen Perser“ allerdings die Anstrengung an, die Geschichte als Heilsgeschichte und in „Jesus W. Bush“ tatsächlich den Erlöser und quasi-Messias zu sehen: „Aber kann es sein [...], daß Jesus wirklich weniger ist als sein Vater? [...] Noch wehrt sich Jesus W. Bush, gottgleich genannt zu werden, aber wir werden ihn schon noch überzeugen. Er ist Gottes Sohn“. Uns schließlich ist die Trinität - und damit die Verschränkung von Macht, Medien und Religion - komplett, denn es „kann nur einen geben, in Dreien. Rumsfeld, Cheney, Bush“. Eine Stimme aus dem Chor (der Chorführer-Erzähler-Autor-Künstler?) kommentiert: „Na, wenn Sie mich fragen, ich glaube, es sind etliche mehr, und dann stürzt ihnen ihre ganze schöne Religion zusammen“. Die Religion aber „existiert“ (und in Irm sagt und Margit sagt wird den Fragen nachgegangen, woher sie kommt und was sie mit Krieg zu tun hat), sie exstiert als unendlich supplementierte (ergänzt? ersetzt?) durch die Mächtigen, die Medien und die Missiles. Wenn auch auf der einen Seite die Kriegswaffen ironisch verramscht und verhökert werden wie Ausverkaufsware („falls Sie jetzt gleich eine brauchen, Stückpreis der Standardausführung, ohne Warhead [...], der kostet extra, da kann man nix machen: $ 650 000“), so sind sie doch gerade als „Präzisionsmunition“, als Geschosse, die „intelligenter sind als der Mensch“ zugleich Sinnbild göttlicher Ratio und phallischer Macht. Auf den Zusammenhang von Technik und Metaphysik hat schon Gianni Vattimo in seinen Heidegger-Analysen hingewiesen: „Die Technik jedoch stellt, entsprechend ihrem umfassenden Anspruch, alle Seienden in ursächlichen, vorhersehbaren und beherrschenden Verhältnissen tendenziell miteinander zu verbinden, die höchste Entfaltung der Metaphysik dar. Hier liegt die Wurzel der Unmöglichkeit, die Errungenschaften der Technik der metaphysischen Tradition entgegenzusetzen: es handelt sich um unterschiedliche Momente eines einzigen Prozesses.“(Der Nihilismus als Schicksal) In Glaube und Wissen (Die Religion) fragt Derrida: „Ist die Doppeltheit [des Maschinenhaften und des Glaubens, B.L.] nicht zum Beispiel das, was ein Phallus [...] bedeutet – ein Phallus oder vielmehr das Phallische, die Wirkung des Phallus, die nicht zwangsläufig die Eigenart des Mannes sein muß? [Vielmehr, B.L.] dessen phantasma, griechisches Wort für dessen Gespenst, dessen Geist, dessen Doppelgänger oder dessen Fetisch? Ist es nicht die kollossale Automatizität der Erektion?“ Erektion und Samenerguß zusammengenommen (und zu Samenerguss als „Überschuss“ gehören assoziativ die Clusterbomben, Streubomben, letztlich die Atombombe) ergeben erst gewissermaßen die Pointe: „ [E]s ist genau dieser Überschuß, der den Bereich des Todes eröffnet, den man mit dem (exemplarisch „phallischen“) Automaten in Verbindung bringt, mit der Technik, der Maschine, der Prothese, der Virtualität, kurz: den Dimensionen des auto-immunitär Supplementären, des Supplementären der Selbstaufopferung – Todestrieb.“ Am Schluss von Bambiland, als Bush-Sohn-Marionette mühsam überzeugt ist, Menschensohn und Gott zu sein („mein Vater reicht  mir grad einen Zettel rein, auf dem steht, daß auch ich Gott bin“), feiert er gleichsam eine Orgie des Macht-Fetisch Phallus, die in der Verschränkungsfigur von Technik, Religion und Sexualität kulminiert: „Schauen Sie, die GBU-28  habe ich doch eigens entwickelt, um die tief im Erdreich verborgenen irakischen Kommandozentralen zu treffen. [...] Jetzt bin ich der Arsch des Menschen, dann müßte ich sein Mundstück werden und ihm gleichzeitig einen blasen.“ (Das sexuelle Motiv des „Blasens“ wird im Peter dann mit dem Mythos von Marsyas und der Flöte (dem Aulos) verschränkt, virtuos geblasen, variiert und gespielt mit den Jelinekschen Sprach-Instrumenten.) Und aus der Beobachter-Perspektive kommentiert der Chor schließlich in Bambiland: „Na endlich spritzt  der ab. Ich hab schon geglaubt, der kommt überhaupt nicht mehr.“ In „Schurken“ geht Derrida in der Zusammenführung von (göttlicher) Macht und Demokratie zurück auf Platon und Aristoteles. In Bambiland  ist nicht nur die Idee der Demokratie pervertiert und korrumpiert durch „Jesus W. Bush“, sondern die Demokratie selbst - und das „Thema“ der Demokratie nimmt Jelinek in Peter mit Benjamin, Derrida und Agamben wieder auf -; und so lässt Jelinek „Jesus W.“ sagen: „Jedenfalls versuche ich natürlich sofort, kaum daß ich weiß, daß ich Gott bin, nützlich zu sein, im Sinne der darwinistischen Biologie, das heißt im Kampf mit anderen mich als begünstigend erweisend. Wer könnte denn begünstigter sein als einer, der Mensch und Gott zugleich ist?“ Derrida verweist in Schurken aber auch, in Zusammenhang mit der Demokratie (und damit wird zugleich auf  Freuds Vatermord (Totem und Tabu) verwiesen, wie ihn Jelinek in Margit sagt aufnimmt), auf die „vatermörderische Theogonie“ hin, nach der Zeus seinen Vater Kronos beerbte: „Zeus ist ein Sohn. Es gibt da einen Stamm. Die Niederlage des Vaters, die Töung des Urvaters, wie Freud sagen würde, der Vatermord und der Königsmord stehen durchaus in gewisser Verbindung mit einer genealogischen Interpretation der demokratischen Gleichheit als Sohnes- und Geschwisterverhältnisses[...], um den kratos im demos zu teilen.“ Und kratos ist bekanntlich die Macht – bei Jelinek freilich nicht mehr Macht des Volkes (demos); denn das Volk folgt als (Freud‘sche) „Urhorde“ seinem „Heerführer“, dem „Völkerfürsten, mit des Szepters Macht betraut“: „denn wir sind alle. Nur einige wenige sind mehr“  – was schon Orwell wusste. Und um die Verschränkung von Macht (Krieg) und Religion noch einmal in der Theorie aufzuweisen (auf die ja auch Jelinek zurückgreift), noch einmal Derrida in einem etwas längeren Zitat: „Ob es sich nun um einen Urmythos handelt oder nicht, auf jeden Fall ist diese theogonische Mythologie der Souveränität Bestandteil, wenn nicht Ausgangspunkt eines langen Zyklus politischer Theologie, die – paternalisch und patriarchalisch zugleich – sich in der männlichen Linie Vater-Sohn-Bruder [Bush-Vater, Bush-Sohn und all die „Brüder“ Cheney, Rumsfeld etc., B.L.] fortpflanzt.[...] Diese Theogonie oder politische Theologie wurde [...] wiederbelebt oder abgelöst von der „modernen“ politischen Theologie der monarchischen Souveränität und darüber hinaus von der uneingestandenen (und nicht minder phallozentrischen, phallo-paterno-filio-fraterno-ipsozentrischen) politischen Theologie der Volkssouveränität – mit einem Wort: der demokratischen Souveränität.“ (Die Religion) Der demos bei Jelinek,, der Chor, die Stimme des Volkes (und des impliziten ironischen Kommentators, des Künstler-Autors in der Rolle des auktorialen Kommentators) soll das letzte Wort zum Krieg haben, von dem es im Peter heißt: „Egal, wer siegt, es siegt doch der Krieg durch Metallverwandlung der Körper“. In Bambiland zeigt Jelinek aber auch schon, wie in Babel, die „Metallverwandlung“ der Seelen: „Wenn alle gleich sind, ist weniger Stolz für jeden da, aber es wird ein Fest, wenn die Menschen fest bleiben in ihrem Stolz, das Empfinden auszuschalten.“ 

In Peter sagt kippt die sich rational (metaphysisch) begründende Technik- und Digitalisierungsperfektion, die in den phallischen Raketen und disseminierenden-ejakulierenden Streubomben ihre wahnhafte Entsprechung findet, dann endgültig in den Mythos um (als eine den personalen Kippfiguren korrespondierende Denkfigur): Der gefolterte amerikanische Söldner Peter wird so zur mythischen Figur des Marsyas, der die nicht zufällig verloren gegangene, sondern verworfene Flöte (den Aulos) der Göttin Athene fand. Denn Athene, die phallische Pallas Athene, eine Kopfgeburt des Zeus (der männlichen Gottheit, die das weibliche Vorrecht zu gebären verneint), hatte sich beim Blasen der Flöte im See gespiegelt gesehen, fand ihr aufgeblähtes Gesicht entstellt, entledigte sich der Flöte und verfluchte darüber hinaus deren Finder. Marsyas, vom Fluch nichts ahnend, hob sie auf und spielte den Aulos fortan so schön, dass er den Gott Apoll damit erzürnte, dessen Spiel auf der Leier (Kithara) bisher als das schönste galt. Im Wettkampf zwischen dem Satyr (Silen) Marsyas, dem Dionysos-Nachfolger, und dem Gott Apoll, im rite de passage (Heinz Reinwald) zwischen den zwei Ordnungen von dionysisch-rauschhaftem Todeserleben (beim Blasen der Flöte ‚zeigt sich‘ die Schreckensmaske der Gorgo Medusa, ein Todesaspekt der Göttin Athene) und rationaler Diskursivität, siegt Apoll. Er siegt durch einen Trick, eine Täuschung, weil er Marsyas auffordert, es mit seinem Instrument so zu machen wie er, es umzudrehen, zu spielen und gleichzeitig dazu zu singen: „Dies war selbstverständlich mit einer Flöte unmöglich, so dass Marsyas den Kampf verlor.“ (Robert von Ranke-Graves)  Als Sieger nun zieht Apoll dem Marsyas bei lebendigem Leib die Haut ab (die bei Jelinek eine vielfach variierte Metaphernreihe bis hin  zur „Netzhaut“ und den Folterbildern aus dem  Netz - web - auf der Netzhaut bildet) und bemächtigt sich seiner „Flöte“ (des Phallus als Symbol rational- patriarchaler Ordnung oder allgemeiner - mit Lacan - als Signifikant symbolischer Ordnung). Den Mythos von  Apoll und Marsyas (auch den von Prometheus) legt nun Jelinek ihrem Text als Hypotext (Genette) zugrunde und überblendet ihn mit den politischen Ereignissen des Irak-Kriegs und der Folter als Hypertext (der Sprachteppich in zugleich elektronische Begrifflichkeit teil-transformiert). Gerade aber durch diese Überblendung  werden die vielfach abgenutzten Sensationsbilder der Folter, von Qual und Sterben, Schändung und Tod zu eben den Kippfiguren, die sie uns neu sehen lassen. In einer zweiten doppelten Überblendung (die Kameratechnik der Sprache – auch dies eine gleichsam medial-differentielle Verschiebung) überlagert Elfriede Jelinek den  Mythos  mit politischer Mythenkritik, und zwar zum einen  mit dem Benjaminschen Essay Zur Kritik der Gewalt (auch in der Lesart von Derridas Gesetzeskraft. Der >mystische Urgrund der Autorität< ) und zum anderen mit Giorgio Agambens Homo sacer-Projekt Ausnahmezustand. Die Überblendungen scheinen dem Text fast so etwas wie Tiefe zu geben, etwas von einem geschichteten Gebilde, in dem man archäologisch fündig werden könnte (im Sinne des Foucaultschen Archivs). Hier aber geht es nicht um diskursiv-regelhafte Formationen, sondern gerade um Transformation diskursiv-theoretischer Spuren in metaphorische, um ein Gewebe. Zunächst möchte ich die erste Überblendung oder Verflechtung von Mythos mit Politik und Folter, Krieg und Gewalt, aufgreifen, gleichsam dort, wo Peter vielleicht zuerst als Peter-Söldner-Marsyas-Zombie erkennbar wird: „Sie haben sich also meine Haut angeeignet, darunter ich, riesige Wunde, Blut kommt überall raus [...].“ In Jelineks komplexem Monolog, das gilt es immer zu beachten, heißt Kippfigur auch, dass die Figuren immer „Zugleich“ von Gegensätzen sind (das Derridasche pharmakon), also Täter und Opfer : Folteropfer, an der Brücke aufgehängt, gehäutet und verstümmelt, und  Söldner-Täter, der foltert und aufhängt und den Krieg kraft seines paradox-biologisch-maschinellen Immunsystems, seiner Autoimmunisierung (Derrida), verherrlicht: „Bitte, das ist doch der Beweis, daß im Krieg und nur im Krieg der Mensch gegen die innere Abwehrmaschine seiner selbst gewinnen kann, wenn er will. [Und dann im Plural, die Stimmen der vielen, im Chor:] Wir sind dagegen, daß man den Krieg häßlich nennt. Er ist schön.“ Gerade aber durch das ästhetische Mittel der Überblendung wird die abgezogene und verbrannte Haut des Marsyas zum Symbol von Folter und Krieg; und die Instrumente - Flöte und Leier - werden in ihrer vielfachen Bdeutungsverschiebung zugleich zu Instrumenten einer pathetisch-klagenden, schreiend-anklagenden Sprache („Das Spielen ist mein Sprechen, jawohl, meine Sprache ist das Spiel“). Diese Sprache, dieses Spiel auf diesen Instrumenten einer nicht-nur-entdifferenzierten, nicht-voll-autonomen Kunst, entreißen den Krieg und die Folter dem „livestream“ der elektronischen digitalen Bilder und dem geschwätzig-stumpfen info-mainstream der Medien, und geben ihnen ihren Schrecken, ihre Brutalität und banal-monströse Unmenschlichkit zurück, aber entlarven auch ihre banal-monströsen Wurzeln von Macht, Gier und Manipulation: „Der Krieg ist ein einziges Spielzeug [...]; Der Krieg ist ein Musikinstrument.“ Die Geschlechtsteile der Geschundenen werden zu Flöten-Penissen, die zum Masturbieren animiert werden von Göttin Lynndie-Athene. Ihre geschundenen Körper werden zu den Menschenpyramiden, die den Herrschafts- und Folterknechten in ihrer „endlosen [Entertainment] Unschuldigkeit“ (Jelinek) das Recht auf Amüsement gewähren, diesen einzigen Spaß, der denen bleibt, die sonst „nichts erleben“. Und das gilt nicht nur für die Folterer; das gilt auch für die anonymen TV-Voyeure. Ihre Stimmen werden verschränkt, zu einem, den Leser fast strangulierenden, Strang: „Man kann gar nicht genug aufnehmen, was man  nicht fotografiert oder gefilmt hat. Yahoo, das ist die Lust am Schauen und Erleben, eins wie das andere. Wenn man nichts erlebt, kann man wenigstens Bilder schauen gehen“ – und, juchu, verschicken an die „Ahnungslosen“. Es ist dies das Ausagieren des Lustprinzips als infantiles totales Entertainment (Disney-Bambiland des Unbewussten);  fast könnte man in Jelinek‘schem Wortspiel vom To(d)tainmaent sprechen - in Analogie zum Wartainment -, denn das Lustprinzip hier verbindet Eros und Thanatos als Lust am Tod, und verweist so auch immer wieder auf die Betrachter der Bilder, auf den „Bazillenschwarm“ der „User“ - bis der „server verreckt“. Die biologistisch-elektronisch-verschränkte Metaphorik verwischt auch die Grenze (ganz im Sinne der Dekonstruktion) zwischen Natur und Kultur (ein Thema, das Jelineks gesamtes Werk durchzieht). Der Lebend-Tote Marsyas, seiner „Flöte aus Fleisch“ beraubt, d.h. ohne „Schwanz“, fordert die TV-User auf: „Ziehen Sie Ihren jetzt heraus, nur keinen Neid, meiner ist ja weg, und so ist kein Vergleich mehr möglich. Endlich muss man nicht jedes Fleisch mit jedem vergleichen, was für eine Erleichterung. Und dort drüben erleichtert sich schon ein Betrachter [...].“ Diese Selbstaffektation als Selbstbefriedigung, die durch die Bilder des Grauens möglich wird, ist die äußerste Pervertierung eines Logozentrismus Rousseau‘scher Prägung. Denn Rousseau, gerade Rousseau (wie vor ihm Descartes, wie später Husserl), holt das Bewusstsein als Selbstpräsenz des Logos über die  Erfahrungsstruktur ein: „Durch eine Bewegung reiner Selbstaffektation beziehen sich die Idealität und die Substantialität im Element der res cogitans auf sich selbst. Das Bewusstsein ist Erfahrung reiner Selbstaffektation. Es spricht unfehlbar [...]“ (Derrida, Grammatologie) Der Rousseau‘sche „Mythos“ der reinen Selbstaffektation (als „erfüllter Prasenz“) wird hier ebenso pervertiert (vom Akt des sich selbst ‚erfahrenden‘ Geistes - noesis- zum Akt der Natur) wie die erkenntnistheoretisch-rationalistische Selbstreflexion als Rückwendung des Denkens auf das Gedachte bzw. auf sich selbst: Sie findet nicht statt - am allerwenigsten durch die Betrachtung der Folterbilder, die eben in Jelinekscher Persiflage zur Bedingung von Autoaffektation statt Selbstreflektion werden. Und geradezu als Pointe könnte man es betrachten, dass bei Rousseau die Onanie die immer schon gespaltene Selbstpräsenz des Logos unendlich supplementiert  („Dieses gefährliche Supplement [...]“, Grammatologie). Wenn hier der antike Mythos mit einem (gespaltenen) Ursprungsmythos (Natur-Kultur) überblendet wird, der nicht nur für das Foltern selbst, sondern auch für das Sich-beim-Foltern-Sehen und dem Sich-beim-Foltern-Erleben gilt - denn die „Lynndie und Sabrina und Mega-Megan, die sind ganz bei sich, wenn sie sowas machen“ -, dann scheint es konsequent, noch einen Moment bei den digitalen Bildern zu bleiben, die zu den eigentlichen Alltagsmythen  (Barthes) geworden sind, weil sie uns, die Zuschauer selbst, gleichsam supplementieren. Jelinek fasst das wieder in eine ihrer Umkehrfiguren, die aber auch immer wieder, Inversion der Differenzen, implodieren: „Der Bildschirm dagegen: unbeeindruckt fest, ganz ohne Eindrücke, dafür bekommen wir jetzt die Eindrücke,  [...] so kann man die Eindrücke – sie sind ja gespeichert – immer wieder aufrufen, jedesmal neu oder wie neu oder wie mit Wollwaschmittel gewaschen“. Das äußerste Triviale, die Fernsehwerbung, steht neben dem Furchtbarsten, der „Folter des verdrahteten Kapuzenmanns“, des (Benjamin‘schen?) Todesengels: Elfriede Jelinek braucht diese Engführung für ihre „Anthropologie“ der Wahrnehmung, den Entwurf des homo visualis (et auditivus), der sich in die Bilder „verschaut“ mit seinen nicht zerschnittenen Augen (seinem nicht gespaltenen Bewusstsein): „ich habe mich verschaut, ich habe mich in diesen Gefangenen verguckt, in diesen Häftling, für den ich mir extra die Folter des verdrahteten Kapuzenmannes ausgedacht habe [...]. Ich habe mich in jemand verschaut, den ich gar nicht sehen kann!“ Das Bunuel-Dali-Jelinek‘sche Rasiermesser hat nicht nur seine Wahrnehmungsfähigkeit von seiner Empfindungsfähigkeit und Einbildungskraft getrennt (im Sinne der Wahrnehmungspsychologie, aber auch im Sinne Rousseaus und Kants) -  wie den Gegenstand vom Bild bei Magritte. Jelinek verhandelt den Schnitt durchs Auge, wie schon gesagt, subjekttheoretisch und erkenntnistheoretisch: Denn seit Willhelm von Ockhams „Rasiermesser“-Prinzip, das unser Erkennen von metaphysischen Wahrheits-Prämissen trennt, sind wir auf die sinnlich wahrnehmbaren Bilder angewiesen: der erste Schnitt durchs sonnengleiche Auge der göttlichen Vernunft. Und nun wollen (können) wir das göttliche Urbild im menschlichen Abbild nicht mehr sehen (auch nicht den leidenden Christus im verdrahteten Kapuzenmann als Sinnbild des Stellvertreter-Opfers und quasi-Verheißung möglicher Erlösung) – „horror unionis“, die Pupillen wollen nicht parallel geschaltet werden angesichts der Bilder und der Bilder von den Bildern. Mit Peter-Marsyas, dem Söldner, dem Opfer, dem Täter, werden wir nämlich alle zum TV-Biedermann von nebenan – der Musil‘sche Möglichkeitsmensch als der allzeit-mögliche Mörder, als das allzeit-mögliche Opfer: Abu Ghraib war schon, Abu Ghraib ist überall. Und der verdrahtete Kapuzenmann - kein schwarzer Engel, kein Christus - sind wir (Madame Bovary, c’est moi): Vernetzt und verdrahtet hängen wir an den Bildschirmen und Bildhandys und Fotohandys, und was wir sehen, gilt uns gleich viel, Hauptsache, wir sehen uns, auch ohne (uns) zu erkennnen. Hauptsache wir sehen uns abgebildet - als letzten „Kick“ im Augenblick unserer Selbstliquidation, was ja schon Bataille (Derrida) verhandelt hat -, wie ja auch Peter- Marsyas, der Flötenspieler, der besiegte Künstler (-Autor), die Rippen-Leier ohne „Flöte aus Fleisch“, an der Brücke baumelnd noch abgebildet sein will und berühmt: „Ich habe ja kaum angefangen, und es soll doch Dichtung und Gesänge bald meterweise geben, die ich Späterdichtender, ich reifer Künstler, ich Spätberufener von mir geben werde, ja, ich werde berühmt und großartig sein und öfter abgebildet als Sting, Stomp, Britney, Catterfeld und Hintersee [...]“.

Die Extreme von Ursprungs- und Alltagsmythen (Rousseau; Barthes) führen uns wieder zurück zum antiken Mythos, zu Peter-Söldner-Marsyas, der von Anfang an schon die Linien(Schrift)züge einer anderen mythologischen Kippfigur eingeschrieben hatte – nämlich die von Prometheus, der den Menschen das Feuer - an der Sonne entzündet - brachte, woraufhin Zeus ihn an einen Felsen schmieden ließ und ihm täglich einen Adler sandte, der ihm die Leber fraß, die aber jede Nacht nachwuchs. Auch Peter-Söldner ist so ein Möchtegern-Feuerbringer: „Ich werfe mit Flammen, ich werfe mit Autobomben“; und alle kleinen kollektiv-prometheischen Menschenverbesserer-Stimmen sagen: „Wir  bringen ihnen das Feuer in erstaunlich vielfältiger Gestalt, damit die Menschen endlich genießbar werden.“ Wenn er auch, mit verbrannter Haut, niemanden mehr auf die Weise „erleuchten“ kann (die „Aufklärung durch Feuer“?, das „Licht“ der sonnengleichen Vernunft?), dass er ihm den „Glühstab“ „in den Arsch“ schiebt, so ist er doch  zum „Adler“ des großen Prometheus-Bush geworden (die Figur kippt) oder wenigstens zum Adler von dessen „Vordenker und Menschenschöpfer“, dem „Erlöser von Price Waterhouse“. Derjenige, den es jedenfalls preiswert gibt, ist der Adler, „dieser Fleischhauer, der sich als Söldner verdingt hat, der meine Leber vertilgt, weil es keine Jobs mehr gibt“: Die Leber - der Krieg - des Prometheus, des Kriegsbringers, aber wird bekanntlich jeden Tag vom „Adler“ aufgefressen und wächst jeden Tag wieder nach. Andere freilich können sich nicht so einfach verdingen wie diese rechtlosen „Wegwerfsoldaten“, sind aber genau so rechtlos. In einer an Shakespeare erinnernden Passage heißt es von den irakischen Häftlingen aus Abu Ghraib und ihren Peinigern: „Die haben die Käfige nebeneinander. Das sind sie aber gewohnt. Die haben den Wasserentzug. Das sind sie aber gewohnt. Die haben den Schlafentzug. Das sind sie aber gewohnt. Ach Gott, denen kann man ja gar nichts antun, was sie nicht schon kennen!“ Und in überbordender Ironie – denn man kann die Häftlinge, und sich selbst mit ihnen, ja fotografieren, da kann man das (prometheische) Licht noch mal einsetzen:„fürs Fotografieren braucht man nur eines: LICHT LICHT LICHT.“ Allerdings gilt (und wer spricht?): „Aber auch diese neuen Fotos werfen kein Licht auf diejenigen, die diese menschliche Pyramide erbaut haben, dieses Kunstwerk [...]“ – Dialektik der Aufklärung. Im virtuos-verweisenden Spiel der sprachlichen Instrumente setzt Jelinek nicht nur die Instrumente des Mythos selbst ein, um die Folterbilder, die niemand mehr „sieht“ - die „Anthropologie“ ihrer „Bedeutungstheorie der Wahrnehmung“ -, in schockierenden Synästhesien (das „prometheische“ Feuer der Bomben bekommt den Befehl: „Symphonie, erleuchte, ertöne“) und Metaphern, in Wortspielen und Kippfiguren neu sichtbar zu machen für unsere nicht „zerschnittenen“ Augen. Sie vollzieht eine Demontage des Mythos, sie zerstückelt auch ihn und transformiert ihn in Metaphern des Schreckens – das ist ihre poetologische Form der Mythenkritik: Den Mythos aus seiner (göttlichen) Zeitlosigkeit des (göttlich) waltenden (Un)rechts zu befreien und in (heillose) Geschichte zu überführen, damit wir deren Vertreter nicht supplementär divinisieren und „walten“ lassen. Das freilich ist auch in ihrem frühen Essay  Die endlose Unschuldigkeit schon nachzulesen, auf den schon hingewiesen wurde.

Der anderen Form der Mythenkritik als einer anderen Demontage des Mythos gilt es sich nun zuzuwenden, und zwar in der Überblendung der Überblendung durch die Theorie. Manfred Frank, indem er Friedrich Schlegels „Rede über die Mythologie“ analysiert, beantwortet seine Frage „Brauchen wir eine neue Mythologie?“ mit der Rechtfertigungsfunktion, den die Romantiker dem Mythos zuschrieben: „Mythen dienen, den Bestand und die Verfassung einer Gesellschaft aus einem obersten Wert zu beglaubigen“, der „Sphäre des Heiligen“. Jelinek zeigt, dass heute nur noch die Bilder heilig sind („was ihnen [den Arabern, B.L.] heilig ist, das ist für uns noch lange nichts, [...] da fängt es bei uns erst an, bei den Bildern, nicht nur bei uns, auch bei Lynndie [...]“, „diese[r] pausbäckige[n] Göttin, die „den Menschenhaufen zum Flötenblasen aufgestachelt“ hat). Wenn bisher die Rede von Pervertierung des Mythos, von seiner Zerschlagung, Zerstückelung oder Demontage war, dann konnten für all diese „Korrekturen“ von Rechtfertigung oder Beglaubigung durch das „Heilige“ zwar Beispiele gefunden werden (wir erinnern uns: Die Jelinek‘schen Figuren und Stimmen beglaubigen nichts), sie verfehlen aber das ästhetische Verfahren, mit dem dieser Text arbeitet. Und das führt uns zunächst zu einem speziellen Theorie-Metaphern-Strang, zu Benjamin. Elfriede Jelinek setzt den Leser auch auf die Spur, zwar nicht unbedingt dadurch, dass sie Benjamin-Zitate einarbeitet, ohne sie kenntlich zu machen (z. B. aus der Kleinen Geschichte der Photographie), sondern vor allem dadurch, dass sie ihn namentlich erwähnt (das macht hellhörig). Wenn sie zum Beispiel Bush-Apoll, den apolitisch-hochpolitisch-mythischen Gott-Apoll, den „hellen Mensch[en] des Westens, den Trickser, den Täuscher“, den „Mächtige[n], nein, nicht Gott“ (nur „Jesus“ W.), vom Fahrrad stürzen lässt (ein Ereignis, das die Medien - allerdings ohne Bild - meldeten) sagt die Stimme (des Autor-Künstler-Kommentators): „Der Herrscher fiel vom Rad: Kein Opfer ist zu groß für unsere Demokratie, am allerwenigsten das Opfer der Demokratie selbst! Das kann nicht von mir sein, nein. Sagt das etwa unser Benjamin, der auch einmal etwas sagen will?“  Nein, Benjamin sagt es nicht, nicht so. Bei Agamben kann man nachlesen, dass der Ausspruch von C.L. Rossiter stammt; denn so endet dessen 1848 erschienenes Buch Constitutionel Dictatorship, in dem er ausgerechnet vor „Notstandsregierungen in den westlichen Demokratien“ warnt, bei denen Regierungen undemokratische „Instrumente“ nicht nur „als temporäre Dispositive in Krisen“ einsetzten, sondern sie zu institutionalisieren suchten.) Warum, so ist hier zu fragen, rückt Jelinek Benjamin in die Nähe solcher Prozesse demokratischer Aushöhlungen? Ich kann es hier nur kurz umreißen, und ich möchte es tun, indem ich zuerst noch einmal Peter-Söldner-Marsyas zu Wort kommen lasse, wenn er sagt: „Also ich, der ich noch nie im Leben von unserem Benjamin auch nur ein Wort gehört habe, aber endlich auch mal zu Wort kommen will [...], also ich liege in einem Reich jenseits des Rechtsbereichs, weil ich nicht zur regulären Truppe gehöre, sondern privatisiert worden bin, wie  der ganze Krieg insgesamt.“ Das bedeutet aber eben auch: „und derweil [...], während Sie Ihre Festplatte abhorchen, ob sie nicht endlich krank geworden ist und mal was andres leiert, befinde ich mich in einem Raum ganz ohne Recht [...], ja, wie soll ich da jemals recht bekommen?“ ‚Zombie‘ heißt in Jelineks differentiellem Verweisungsgeflecht jetzt: „Wir sind lebende Tote. Wir hatten auch gestern schon das Recht zu leben nicht mehr, denn jede Entschädigung für unsere Kriegsschäden wurde, ja, auch rückwirkend, abgelehnt.“ Benjamin knüpft in seiner „Definition“ der Demokratie insofern an den Mythos an, als jede Demokratie sowohl in ihrer rechtsetzenden als auch rechterhaltenden Funktion nur „mythisches“ Recht setzt, das von Gott in messianischer Zukunft außer Kraft gesetzt werden soll (die Benjaminsche „Entsetzung“ der „mythisch“ gesetzten Gewalt durch die göttlich „waltende“). Jelinek setzt diese „mythische“ Rechtsetzung und Rechterhaltung der amerikanischen Demokratie der quasi-mythischen Götter Bush-Vater und Sohn „Jesus W.“-Apoll („Apoll, der grundsätzlich Apolitische“) um in ihre Kritik der Gewalt (so der Titel des Benjaminschen Aufsatzes)  und setzt so zugleich die rechtsetzende und rechterhaltende „mythische“ Gewalt Benjamins in eine ironische Buchstäblich- oder Wortwörtlichkeit um – dies ist ihre Form der hier stattfindenden Demontage.  Mit ihrer Lesart der „mythischen“ Rechtsetzung und Rechterhaltung als „mythischer“ Unrecht- und Willkürherrschaft (der Sieger, der Trickser Apoll, der den besiegten Marsyas häutet) entlarvt sie eine Willkürherrschaft nicht von Göttern, sondern von „Schurken“ (Derrida), die diese selbsternannten Götter ja gerade zu bekämpfen vorgeben. Und genau damit zeigt Jelinek das Umschlagen der Demokratie in „Mythos“ - das Umschlagen aller pervertierten Macht in Mythos, von pervertierter Herrschaft in den „Ausnahmezustand“ (den Krieg) und zugleich - im Wortspiel - den „Aufnahmezustand“ (die Folter, die Bilder: „And they took pictures of everything“). Zum einen also zeigt sie das Benjamin‘sche „mythische“ Recht als Unrecht des Mythos (und messianischen Vollendungswillens) und transformiert es in Metaphern – was nicht heißt, dass sie es „anschaulich“ machte. Sie macht es „metaphorisch“ in der Umformung der Theorie zum Zwecke der Korrektur aller Rechtfertigung durch den Mythos als „Natur“ (des Göttlichen), wo die Geschichte (Historie) am Werk ist: „Die stellen das so dar, daß der rechtsfreie Raum, in dem ich hänge, Natur wäre“. Und zum anderen überblendet sie, theoretisch wie bildlich, mit Theoremen aus Giorgio Agambens Ausnahmezustand.  Dieses Werk des italienischen Philosophen wiederum enthält die (hier sehr vereinfacht wiedergegebene) These, dass die Demokratie in der Bekämpfung von Terror Gefahr läuft, demokratische Rechte zu opfern. Sie schafft den „Ausnahmezustand“, z. B. für die Gefangenen von Guantanamo oder Abu Ghraib, indem „sie den rechtlichen Status dieser Individuen radikal auslöscht und damit gleichzeitig Wesen hervorbringt, die juristisch weder eingeordnet noch benannt werden können“ (Agamben). Und genau so begeht sie selbst das Unrecht, das sie  bekämpfen will. Den „privatisierten“ Krieg im Irak um Profit (Halliburton und die Offshore-Firmen) und den ebenso „privatisierten“ Krieg der Söldner (Blackwater, Price Waterhouse) brandmarkt Elfriede Jelinek mit Agamben als „rechtsfreien“ („rechts gebeugten“) Raum, in dem der „gehäutete“ Söldner Peter, der seine Haut zu Markte getragen hat, an der Brücke von Falludscha baumelt und sagt: „Dieser Ort ist mein Hinrichtungsort, er ist mein Exekutiv und mein Legislativ, where are my legs, nebenbei bemerkt“ – wobei gerade auch das Wortspiel den Schrecken, die Furcht, das Mitleid - die Katharsis (als die unmögliche Möglichkeit eines Ereignisses?) - hervorruft. Den Ausnahmezustand als Notstand bringt auch Peter-Marsyas-Zombie ironisch-ambivalent zur Sprache: „[...] keine Verteidigung, die irgendwen schützen könnte, keine Norm, die man einsetzen, kein Normenverstoß, den man aussetzen, kein Notstand, den man beenden könnte [...].“ Bei Agamben liest es sich so: „Wie wir sehen werden, begründet der Ausnahmezustand aber eher einen kenomatischen Zustand, ein Rechtsvakuum, und die ursprüngliche Fülle der Macht muß betrachtet werden als ein juristisches Mythologum analog zur Idee der Naturgewalt“. Und noch einmal „Peter“, das Agamben‘sche „Rechtsvakuum“ variierend: „Leere, da gilt überhaupt nichts mehr, kein Recht“; „Bitte, der Staat muß, er soll, er darf sich verteidigen, aber in dieser saugenden Leere [...], also in dieser Leere, da gilt überhaupt nichts mehr, kein Recht [...].“ Und vielleicht zum letzten Mal Peter-Söldner-Marsyas: „Wenn man die Demokratie schützen muß, ist sie schon keine mehr.“

Der  zugrunde gelegte Mythos vom Gott Apoll(-Bush), der den Wettstreit zwischen seiner Leier als dem überlegenen „Instrument“, der besseren, intelligenteren Waffe instrumentalisierter Vernunft, und der Flöte des Dionysos-Jüngers Peter-Marsyas für sich entscheidet und ihn häuten lässt, ist auch parodistisches „Zitat“ von Nietzsches „Geburt der Tragödie“, dem Konflikt des Apollinischen und des Dionysischen als „amerikanischer Tragödie“:  Denn, wir wissen es schon,  an der Brücke in Falludscha werden  Peter-Marsyas‘ gehäutete Rippen zur apollinischen Leier, und die Penis-Flöte seiner irakischen Folteropfer-Kippfigur wird zum „Instrument“, zum Spaß-Spielzeug, der Folter-Spaß-Göttin Lynndie-Athene-England: „Der Krieg ist ein einziges Spielzeug“; „Der Krieg ist ein Musikinstrument“. Elfriede Jelinek spielt den Bogen ihrer Metaphern- und Sprachspiel-Instrumente (nicht im Wittgensteinschen Sinne) souverän, denn sie setzt den Bogen, der mit dem Foltertext kakophonisch zum letzten Ton als surrealistischem Schrei kommt, schon beim Dritten Golfkrieg, eben in der Wüste Iraks in Bambiland an. Denn in den Schlachten in der Wüste (auch des Unbewussten) ereignet sich, wie im Gefängnis von Abu Ghraib, was Foucault die Mikrophysik der Macht nennt, die eine Macht „von unten nach oben“ ist und die die Körper durchdringt (als praktizierte ‚Biomacht‘ der amerikanischen underdog-GIs, die nun ihrerseits die  Folteropfer wie Hunde an der Leine ziehen) . In dem  Krieg der phallischen Raketen und der (leider nicht immer so treffsicheren) „intelligenten“ Präzisionsmunition, im Heiligen (Medien-)Krieg des „Jesus W. Bush“ wird zugleich das Foucault‘sche „Oszillieren“  (auch dies korrespondiert dem „Oszillieren“ der sprachlichen Verschränkungs- und personalen Kippfiguren) zwischen der (Mikro-)Macht „von unten nach oben“ und der alten (feudal-juridischen) „von oben nach unten“ deutlich. Die alten metaphysischen Dichotomien von Macht und Ohnmacht, Gut und Böse (entlang ihrer Achsen), vollendeter Ratio und tödlichem (Ir-)Rationalismus, Ratio und Religion werden so gerade durch die überbordende Sprache zugleich aufgezeigt und subvertiert: Es ist auch die Verschränkung von „Pathos und Kitsch“ (wie schon in Brochs Zerfall-der-(rationalistischen)Werte-Projekt „Die Schlafwandler“, in dessen Tradition Jelinek steht), von Theorie und Schrei, Philosophie und Emphase, die zur Jelinek‘schen Logik der Ambivalenz, zum „Moralkunstwerk“  wider die vernünftig-religiös-rational motivierte Moral führt: Sie schreibt ihr „Moralkunstwerk“ eher im Sinne Wolfgang Welsch‘ Projekt transversaler Vernunft, das heißt der Verschränkung von Ethik und Ästhetik in der langen Tradition von Nietzsche bis Derrida. Die Derrida‘sche Position einer literarischen Ethik der Gabe, der Narration, die, in der „Durchstreichung“ der Signatur des Autors, zum Ereignis für den Leser werden kann, wird ja auch in Bambiland schon über die Erzählerfiguren (d.h. nicht nur über die Sprachfiguren) eingeholt: Schon hier Bezug nehmend auf Benjamin (Über den Begriff der Geschichte) lässt sie ihren Autor-Sprecher-Künstler, der sich archaisch anmutend  „erster Bote des Leids“ nennt, vom Engel der Geschichte zum „ talentreichen Dämon“ werden. Den Engel der Geschichte treibt der Sturm bekanntlich, mit dem Gesicht den Trümmern der Vergangenheit zugewendet, zum Paradiese; der „talentreiche Dämon“ der Geschichte hingegen charakterisiert sich selbst als der, der „ich allzu hart anspringe die Tatsachen  und sie verdrehe, daß sie nach hinten schauen, aber diejenigen, die noch in die Zukunft schauen, die hol ich mir her“ –  und die Tatsachen sind nach Nietzsche ja bekanntlich „Tat – Sachen“, also gemachte, d.h. veränderbare  Wirklichkeit. Liegt genau darin das utopisches Potenzial bei Elfriede Jelinek?

Die Verschränkungsfiguren von Religion, Ratio und Rassismus innerhalb des gesamten Bühnenwerks sollen hier nun noch einmal mit Derridas „weißer Mythologie“ erhellt werden. Derrida versteht darunter (mit Anatole France) das abendländische Denken der einen göttlichen Stimme der Vernunft (insofern sind die drei Monologe bei Jelinek die Rehabilitierung von Babel und seiner Vielstimmigkeit), die immer mit dem (weißen) Licht der Sonne verglichen wurde. Auch Descartes setzt Vernunft und Sonnenlicht gleich, und Jelineks großer Bambiland-Polylog babylonischer Sprachverwirrung beginnt: „Schon durchdringt schon dringt hindurch die Sonne, erster Bote des Leids, zu dem Herrn, wie heißt er nur, jeder weiß, wie er heißt“ – „Jesus W. Bush“ heißt er. „Weiße Mythologie“ ist „reine Essenz“ (wie das Sonnenlicht), die „alle Farbigkeit auf das Weiß hin überschreitet“ (Welsch), auf die „reine“ Wahrheit der Vernunft hin, die zur „Folter“ der „Vernunft“ (Foucault) - und ihres Wahrheitsdiskurses – umkippt (Peter sagt). „Weiße Mythologie“ ist nach Derrida aber auch noch aus einem anderen Grund weiß : Sie  ist die (göttliche) Vernunft des weißen Mannes, der im imperialen Gestus der Universalität eine Mythologie kolonialer Minderwertigkeit installiert: „[D]er weiße Mensch hält seine eigene Mythologie, die indoeuropäische Mythologie, seinen logos, das heißt Mythos seines Idioms, für die universelle Form dessen, was er immer noch Vernunft nennen wollen soll.“ Auch von hier aus spannt sich der Jelinek‘sche Bogen (oder Faden) ironisch-moralischer Mythenkritik und -korrektur vom Bambiland-Kriegs-Szenario bis zu den Folterknechten von Abu Ghraib. Kämpfen doch in Bambiland die amerikanischen Soldaten so folgsam-herdenhaft gegen das Böse, das sich -dichotomisch - in den „Sandnegern“ verkörpert. Der Umschlag von Vernunft in Macht-Wahn, Gewalt und Raub wird folgerichtig-ironisch am Herrscher Helios demonstriert, der in Bambiland symbolisch und tatsächlich im Westen „schwindelnd, nein schwindend“ untergeht. Die Metaphysik als „Sein an sich“ (Jelinek) wird im Irak-Krieg der schein-heiligen Demokraten endgültig bloßgestellt und in der Bloßstellung beschädigt: „Das Sein ist immer nur Grad von Scheinbarkeit, und der Schein kommt aus dem Fernsehgerät“. In Bambiland wird nicht nur die metaphysische Dichotomie von Sein und Schein, sondern auch die von Natur und Kultur (ein Thema, das, worauf schon hingewiesen wurde, Jelineks gesamtes Werk durchzieht) ironisch radikalisiert und ad absurdum geführt: Die Vertreter der Kultur nämlich sind die weißen, die amerikanischen Eroberer, die die Alterität der „Sandneger“ grundsätzlich  als Natur diffamieren, die es ökonomisch-politisch-religiös zu „befreien“ gilt. Jelinek bedient sich dieses „kolonialen Diskurses“ (Homi Bhabha) und demontiert-dekonstruiert seinen scheinhaft-idealen Anspruch:„Zur Befreiung des Volkes führn sie uns hin“; „Wir greifen zum Raub, wenn wir was wollen“. Selbst die naturalisierte Bedeutungstheorie eines Donald Davidson mit ihrem „principle of charity“ (des Verstehens) wird ironisch politisiert: „Man will immer wohlwollend verstanden sein, sonst würde man ja gar nichts sagen in die vielen Kameras und Mikros.“ Von der „weißen Mythologie“ des kolonialen Blicks, den Motivreihen von Auge (Sonne, Vernunft, Ratio) und Kamera schon in Bambiland, führt dann die Sinn-Linie (der eingewebte textuelle Sinnfaden) direkt zu der „Geschichte des Auges“ der fotografierenden Folterknechte (und ihrer Herren: Hegel-Parodie auch hier?). Mit den Folterbildern von Abu Ghraib geht die Sonne der Vernunft endgültig unter, die in Bambiland über der Wüste als Götterdämmerung der Vernunft noch einmal einen falschen Schein verbreitete; ist das sonnengleiche Auge der Vernunft endgültig gespalten; wird mit dem von Jelinek noch einmal verwendeten Bunuel-Dali‘schen Rasiermesser (die Derrida‘sche verweisende, sich in ihrer Bedeutung verschiebende,  Wiederholung - Iteration -) ein für alle Mal zerschnitten, wird mit dem Freud‘schen „Messer“ „getrennt“ in die Schichten des Bewussten und die des triebgesteuerten Unbewussten. Der Peter-Autor-Künstler ist der moralische „Operateur“, der dem Leser mit seinem „erigierten, engagierten Messer“ die „Augen“ „öffnen“ will für diese (immer wieder verleugnete?) Teilung. Es ist zugleich das Messer, mit dem der Peter-Marsyas gehäutet, mit dem der Amerikaner Nick Berg geköpft, mit dem vielfach gemordet und gefoltert wurde. Die Blendung, die  Kastration, die Teilung des Auges, soll uns, so will es die Peter-Autor-Künstler-Kippfigur, indem sie äußerste (sur?)realistische (Traum-?)Bilder evoziert, einmal mehr mit unserem Unbewussten konfrontieren, und das heißt mit unserem als narzisstisch-heil und zum Heil erlösbar imaginierten Begehren und mit unserer Blindheit für unsere eigene destruktive Trieb-Wunsch-Struktur von Eros (als pervertiertem Sex) und Thanatos (als Folter-Todes-Tötungstrieb) – von Jelinek gebannt in die Verschränkungsfigur von Sexualität und Gewalt (als Terror, Krieg und Folter). Elfriede Jelinek  schreibt mit der Thematisierung der Folter und der Bilder von Folterungen auch die Tradition der Wahrnehmung von Bildern fort (Benjamin, Barthes, Baudrillard) und verschiebt sie zu ihrer poetisch-kritischen „Bedeutungstheorie“ von Realitäts- und Bild-Wahrnehmung. Knüpfte schon Benjamin seine Theorie und „Geschichte der Photographie“ an das Unbewusste, insofern als die „Photographie“ für ihn das „Optisch-Unbewußte“ erschließt wie die Psychoanalyse das „Triebhaft-Unbewußte“, so trennen die digitalen Video-Kamera-Bilder der elektronisch verschickten Folterbilder die Wahrnehmung auf der Netz-Haut, die dem worldwide „web“ korrespondiert, gleichsam vom Unbewussten (auch als Verarbeitungsinstanz) ab: Auch dafür „steht“ das zerschnittene Auge. Baudrillard betont, dass die digitalen Bilder solche ohne „Negative“ sind (wie sie noch die herkömmlichen Fotografien haben), und das heißt für ihn, dass sie „ohne Bezug sind“: „Sie sind virtuell, und das Virtuelle macht Schluss mit [...] jedem Bezug auf die Wirklichkeit oder auf ein Ereignis“. Das nur noch selbst-referentielle Bild wirft das Problem seiner „Indifferenz gegenüber der Welt auf“ – „und das ist ein politisches Problem“ (Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse). Jelinek  führt das fort und radikalisiert es, wenn sie die fotografierenden Folterer als seelen- und vernunftlose „Augenapparate“, Prothesen ihrer Kameras, beschreibt: „[...] jeder ein Apparat und mit einem Apparat und selber Apparat“; denn: „Es siegt der Krieg durch totale Metallisierung, durch Metallverwandlung des Körpers“ - und das „Negativ“ dieses Bildes, seine Entsprechung, ist das digitale Folterbild des „verdrahteten“ Kapuzenmannes. Die folternden und sich beim Foltern fotografierenden GIs  „beweisen“ vielleicht weniger, wie dünn der „Lack“ der Kultur, der Zivilisation aufgetragen ist (unter dem, entgegen aller Kulturkritik eines Lévi-Strauss z. B., der ewige „Wilde“ lauert), sondern dass sie genuine Kinder der „Kultur“ der Virtualität selbst sind, narzisstisch-gefühlsarme Bewohner von Disney-Bambiland und „Demonstranten“ seiner Verharmlosung als gefährlich- „unendlicher Unschuldigkeit“, Genießer des Glamour-Scheins seiner totalen Entertainment-Verdummung - eben „Kinder“ des Zeitalters synthetisch-digitaler Bilder ohne Bezug zu ihrem Gegenstand: Das auch meint die Trennung von „Bild und Gegenstand“, die Jelinek am Magritte-Bild Ceci n’est pas une pipe demonstriert, wenn sie Peter-die-Pfeife schreien lässt wie den gehäuteten Marsyas: „Warum trennen sie mich von mir? [...] Why tear me from myself?“ Wenn Peter-Autor-Künstler den „Kompaß“ seines „Moralkunstwerks“ „immer dorthin zeigen [lässt], von wo [...] die Post abgeht an die Ahnungslosen“, so schreibt Jelinek gleichsam Derridas „Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits“ fort: Eine Kritik der Metaphysik, des Rationalismus, der in der Technik der „rationalen“ Präzisionswaffen und der digitalen Bilder kulminiert, und den sie ebenso mit der Psychoanalyse poetisch (be-)schreibt, weil sie sich mit der Autor-Künstler-Stimme in seine Kritik eingeschrieben hat, die sie schließlich sichtbar macht im Aufzeigen der Spuren des Kollektiv-Unbewussten im Text. Denn nicht nur über Philosophie und Mythos, sondern auch über die poetisch-orgiastisch-ironische Anverwandlung der Psychoanalyse in Metaphern schreibt Elfriede Jelinek die Terroranschläge islamistischer Fundamentalisten (den 11. September und nicht nur ihn), den kolonialen Krieg und die Folterereignisse und -bilder mit ihrem „Moralkunstwerk“ in das kulturelle Gedächtnis der Literatur, in die literarische Memoria, die in der Dekonstruktion Derridas „unberechenbare Verantwortung gegenüber dem Gedächtnis“ ist, „als Aufgabe der Geschichte, den Ursprung, den Sinn [...] und die Grenzen der Werte, der Normen, der Vorschriften ins Gedächtnis zurückzurufen“ (Gesetzeskraft) – also „keine nihilistische Abdankung dort, wo sich die Frage nach ethisch-juridischer Gerechtigkeit stellt“ (Anja Küpper).   Das gilt es zum Schluss zu zeigen.

 

4. Irm sagt und Margit sagt – Versuch einer phylo-und psychogenetischen Ausleuchtung von Terror, Folter und Krieg

 

In den beiden mittleren Monologen  Irm sagt und Margit sagt geht  Jelinek in nun gleichsam intertextuellen Verschränkungsfiguren der Frage nach, woher die Gewalt des Terrors, woher „die neuen Kriege“ (Herfried Münkler) - und die alten - kommen, wie Religion und Krieg (der Terror der Muslime, der Krieg  des „Jesus W. Bush“) zusammenhängen. Schon der Chor in Bambiland schlägt dieses Thema an: „ Erst einmal eine Frage: Meinen Sie, diese Religion ist es überhaupt wert, daß man so um sie kämpft?“ Und die Antwort führt Elfriede Jelinek über das Apollinisch-Sokratische hin zu Freud, Otto Gross „und jenseits“ - zu  Lacan. Denn wenn gilt, dass Fiktion es mit Erkenntnis zu tun hat (und nicht mehr mit Mimesis), dann gilt auch: „Die Fiktion kann zwei einander widersprüchliche, in der Welt der Tatsachen nicht notwendig vorhandene Erkenntnisse erzeugen, Erklärung und Sinn“ (Georg Seesslen).Von der Absage an den EINEN Sinn im Sinne einer Geschichtslogik habe ich schon gesprochen: Hier fungiert das Jelinek‘sche von Bunuel-Dali geborgte Rasiermesser, das das Auge der göttlichen Vernunft teilt, wie „Ockham‘s razor“, das erkenntnistheoretische Prinzip des Wilhelm von Ockham, der schon oben erwähnt wurde. Ich sehe in Jelineks mittleren Monologen, die auch  stellvertretend nicht nur für dieses, sondern für ihr gesamtes Werk stehen  können, insofern  es in der Tradition einer literarischen Ethik der Gabe steht, also kein Sinnangebot, wohl aber das einer zum Ereignis gewordenen Er-klärung, nicht über transzendente Erkenntnis, sondern „dezendente“, ins Unbewusste hinabführende, Erkenntnis. Ist die philosophische Ethik Begründung der Moral, so gibt Jelinek hier eine psychoanalytische Verabgründung. In der poetischen Ergründung des Erlösungsphantasmas und des Fetischcharakters des Religiösen, das in Selbstmord und Mord gleichermaßen ein Heil-Mittel sieht als Weg zum Heil in der Transzendierung des Individuellen zum Universalen, geht Jelinek zunächst „zurück zu Freud“ (Samuel Weber), indem sie die  Frage „Warum bitte ist dieser Krieg ausgebrochen?“ zuspitzt (keineswegs im Sinne einer Verengung) auf die, warum der Sex all die „Antriebe“ (die Freud‘schen „Pulsions“) brauche wie „Religion, Kultur, Krieg, Sport“. Indem sie beide Fragen verschränkt, setzt sie Freuds Totem und Tabu gleichsam um in Bilder - eine gigantische Verschränkungsfigur von Kulturphilosophie und Poesie. In Totem und Tabu steigt Freud bekanntlich mit der Frage nach dem Ursprung der Religionen zu den mythisch-historischen Anfängen der Menschheitsgeschichte und zugleich in das kollektive Gedächtnis hinab, unternimmt, mit Foucault gesprochen, eine Art Vater-Archäologie (die schon keine reine Ursprungsphilosophie mehr ist). Das Jelinek‘sche Verfahren kann man nun als eine Übersetzung- oder Transformation der Freud‘schen „Theoreme“ sehen (wie schon bei Benjamin). Was ist das hier für ein Unternehmen? 

Freud setzt an den Ursprung der Religion den Vatermord durch die Söhne, die das Weibchenmonopol des Vaters brechen wollten. Die erste Totemmahlzeit der Menschheit (deren supplementär-symbolische Wiederholung nach Freud das christliche Abendmahl ist) war, nach dem Mord und der Kastration des Vaters, nach „unseren“ Maßstäben schierer Kannibalismus: Der Vater wurde roh verzehrt, damit sich sein Mana, seine „Kraft“, auf die Söhne übertrug. Dort setzt Freud mit dem Inzestverbot den Beginn der Kultur an (eine vollkommen andere Ursprungsmythe als die Rousseaus), die seitdem eine Kultur des verdrängten Begehrens und seiner Neurosen ist. Es ist zugleich der Beginn der Religionen: Denn von nun an wird der gemordete Vater unendlich supplementiert in Gott-Vaterbildern (die Wiederkehr des Verdrängten), schließlich Muttergottheiten. Wenn Jelineks „Vermischungsfigur“ (Kronauer) Margit, die eine Zombie-Maria-Muttergottes/Mutter-des-Mohamed-Atta ist, zu sprechen anfängt und ihre kannibalistisch-islamistisch-christlich-symbolischen Schlacht- und Fleischesser-Szenarien (das Derrida‘sche „Fleischfressend-Phallogozentrische“, Die Religion) monologisch evoziert, so geht sie eben darin auf Freud zurück, indem sie ihn gleichsam metaphorisch „inszeniert“. Schließlich dreht sie das Freudsche Paradigma noch um, indem sie sich auf Gross‘ Ursünde der Menschheit, die Unterdrückung der Frau in der Zerschlagung des Mutterrrechts, beruft und dessen Destruktionssymbolik zum Teil wörtlich einarbeitet. Diese Gross‘sche Destruktionssymbolik beruht darauf, dass die ursprünglich harmonischen „Grundinstinkte“ oder Triebe der Menschen  - sich nicht vergewaltigen zu lassen und andere nicht selbst vergewaltigen zu wollen - im Patriarchat pervertiert wurden zum Sado-Maso-Muster „Willen zur Macht“ (Alfred Adler) und „Selbstaufhebung“. Genau diese Strukturen finden wir in den Selbstmordattentaten (Selbstaufhebung) und in den wahllosen Terror-Morden (Wille zur Macht). In  biologistischer Metaphorik ist schon in Peter sagt von den Selbstmordattentätern als „freien Radikalen“ die Rede, „die mit sich als Bomben schmeißen“. In Margit sagt wird bei Jelinek mit der von Gross‘ wörtlich übernommenen Symbolik die Frau zum „Schwein“, die Empfängnis zur Vergewaltigung, die Geburt zur traumatisch-gewaltsamen Operation - in Tierbildern. Die Schlingensief‘sche „Reise durchs Schwein“ ist eine Reise durch die im Patriarchat entwickelten „Männerphantasien“ (Klaus Theweleit) des priapischen Mannes und der unterworfen-„werfenden“ Frau – kein „Pornoland“, sondern  kollektiv-eingeschriebenes phylo-und psychogenetisches Sado-Maso-Potenzial bis heute. Eine solche Er-klärung ist die Zumutung der Konfrontation und Reflektion für uns rational-erleuchtete Erben der Aufklärung. Die eigentliche Brisanz gewinnen die Jelinek‘schen kannibalistischen Kastrations- und Fressszenarien aber erst durch die Überblendung mit Jacques Lacans Inzesttheorie. Im Lichte dieser Theorie werden die erlösungssüchtigen Märtyrer und Gotteskrieger, die  frauenverachtend-faschistischen „reinen“ Gottesmänner („mörderische Grenzfälle des Patriarchats“, Theweleit) auch bei Elfriede Jelinek zu nicht abgelösten Muttersöhnchen, die immer noch „auf dem Topferl“ sitzen und „nach Erlösung“ schreien (Margit sagt) – „Marineinfant“ heißt das „Kind“ im Peter. Lacan geht in seiner Subjekttheorie auf die Freud‘sche „Urszene“ der Mutter-Kind-Dyade zurück. Er siedelt sie im sogenannten Spiegelstadium an: In dieser Zeit imaginiert sich das nicht nur motorisch noch nicht koordinierte Kleinkind im Blick der „Mutter“ (jeder möglichen Bezugsperson) als ganz, als heil, als vollkommen. Es ist der „Phallus“ des Vaters (als Zeichen, als Signifikant der symbolischen Ordnung), der diese „inzestuöse“ Dyade durchbrechen muss, damit das Kind ein vom Phantasma, vom Begehren des Heilen, vom Ewig-Erlöstwerden-und-Vollkommen-sein-Wollen befreiter Mensch sein kann. Wenn diese Loslösung nicht gelingt, wird das Kind sein Leben lang das Vollkommene, Heile, Ganze begehren (die Wunschstruktur des Unbewussten), gleichgültig, welcher „Signifikant“ es „strukturiert“, es ihm verspricht (die Macht oder die Religion, die Schönheit, die Jugend, das Männliche, die Technik, der Sport etc.). Und er, der ewige Kind-Mensch, der Infant, der Narziss, wird  immer genau das bekämpfen müssen - mit Ausschließung und Ausgrenzung, mit Terror, Mord und Selbstmord-, was ihm als des Nicht-Vollkommene (also das Böse) „erscheint“ - den innerlich verdrängten und nach außen projizierten „Selbstvorwurf“ (Freud) - und was ihn von der Erlangung oder Herstellung dieses „Phantasmatisch-Heilen“ abhalten könnte. Den solcher Art infantil gebliebenen Söhnen (auch Töchtern) ordnet Jelinek die infantil gebliebenen Mütter zu, die ihre Söhne, ihre Töchter „inzestuös“ an sich binden und sie „kastrieren“, so dass sie die Wunde der Leere immer werden füllen müssen, ein Leben lang. Und die Söhne werden die „kastrierende“ Frau genau deshalb fürchten oder auslöschen müssen, so wie Mohamed Atta in seinem Testament verfügt, dass keine Frau seinen Leichnam berühren, zu seiner Beerdigung oder auch nur seinem Grab kommen darf. Das phantasmatische Begehren der Aufhebung des (Ur-)Mangels und der „Trieb des Heilen“, Zeugnis Derrida‘scher „Autoimmunisierung“ (Die Religion) - Jelinek nennt sie auch „Immunsystem“ der „Selbsttoleranz“: „Sehr geehrter Mann, sehr geehrte Frau, Sie haben ein Immunsystem, das ist wie ein Instrument“ (Peter sagt)-, setzt sie mit Freud-Gross-Lacan in „Szene“ oder eher in Bilder von schockierender Destruktion: Genau darin korrespondieren sie nicht nur der Psychoanalyse und Destruktionssymbolik etwa des einstigen Freud-Mitarbeiters Dr. Otto Gross, sondern eben auch der destruktiven Realität von Terror, Folter und Krieg.

Bärbel Lücke

 

Ausführliche Analysen von Bambiland/Babel (Irm – Margit – Peter) liegen von Bärbel Lücke vor unter folgenden Titeln:

 

„Der Krieg im Irak als literarisches Ereignis: Vom Freudschen Vatermord über das Mutterrecht zum islamistischen Märtyrer. Elfriede Jelineks Bambiland und zwei Monologe. Eine dekonstruktivistisch-psychoanalytische Analyse.“ In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften, herausgegeben von Peter Engelmann, Passagen Verlag, Wien,  Heft 3, 2004, 50. Jahrgang, S. 362 – 381.

 

„And they took pictures of everything: Der Irak-Krieg, die Folter, die Bilder – die Folterbilder im ‚Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit‘. Elfriede Jelineks dritter Monolog zu Bambiland/Babel : Peter sagt.“  In: manuskripte. Zeitschrift für Literatur – herausgegeben von Alfred Kolleritsch und Günter Waldorf, Graz, Dezember 2004 

 

3.3.2005

ungekürzte Fassung des in "Bambiland" (Rowohlt, 2004) erschienen Nachworts

 


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