ERNST IST DAS LEBEN

(BUNBURY)

Oscar Wilde

aus:

The Importance of Being Earnest
Deutsche Fassung von Elfriede Jelinek
nach einer Übersetzung von Karin Rausch

 

 

 

2. Akt

(Garten vorm Herrenhaus. Graue Steinstufen führen zum Haus hinauf. Der Garten, altmodisch, voller Rosen. Jahreszeit: Juli. Korbstühle und ein mit Büchern überhäufter Tisch stehen unter einer großen Eibe. Miss Prism sitzt am Tisch. Im Hintergrund sieht man Cecily beim Blumengießen)

Miss Prism (ruft): Cecily! Cecily! Sinnvolle Tätigkeiten wie Gärtnern  gehören doch wohl eher in Moultons Bereich! Für uns bleiben die intellektuellen Freuden übrig. Ihre deutsche Grammatik liegt aufgeschlagen da und wartet seit Stunden. Wir beginnen auf Seite 15 und wiederholen die Lektion von gestern. Auch die Deutschen selbst müssen ja immer wieder ihre Lektion kriegen.

Cecily (kommt sehr langsam): Aber ich hasse Deutsch! Es sagt mir nichts, also sage ich ihm auch nichts. Außerdem sehe ich in Deutsch einfach gräßlich aus. Fast schon so schlimm wie die Deutschen selbst.

Miss Prism: Liebes Kind, Sie wissen doch, daß Ihr Vormund größten Wert darauf legt, daß Sie in jede nur mögliche Richtung vorankommen. Ihr Deutsch hat er sogar mit ganz besonderem Nachdruck betont, bevor er sich gestern wieder in die Stadt verdrückt hat. Es ist mir überhaupt aufgefallen, daß auf dem Deutschen immer ein ganz besonderer Druck lastet, wenn sein Vormund  einmal verschwindet.

Cecily: Der gute Onkel Jack! Er ist immer so ernst! Manchmal ist er dermaßen ernst, daß ich glaube, er ist krank.

Miss Prism (richtet sich auf): Ihr Vormund erfreut sich bester Gesundheit. Und der Ernst, mit dem er alles tut, wenn er überhaupt  irgendetwas tut, spricht sogar ausdrücklich für ihn. Sehr lobenswert bei einem so jungen Menschen. Ich kenne niemanden, der mehr Pflicht- und Verantwortungsgefühl hat.

Cecily: Ach deshalb sieht er immer so gelangweilt aus, wenn er seine Pflichtübungen bei uns absolviert!

Miss Prism: Aber Cecily! Ich muß mich doch sehr wundern. Mr. Worthing hat schließlich jede Menge Probleme. In seiner Situation macht man nicht dauernd blöde Witze oder sondert Banalitäten ab. Und das alles wegen seiner ständigen Sorgen um diesen Unglücklichen, seinen Bruder!

Cecily: Ich wünschte, Onkel Jack würde diesen Unglücklichen, seinen Bruder, öfter mal herkommen lassen. Wir könnten doch vielleicht einen guten Einfluß auf ihn ausüben! Ganz bestimmt sogar! Wir üben doch dauernd. Sie können Deutsch und Geologie, und irgendwas müßte ich doch auch können. Solche Sachen müssen das Leben eines Mannes doch irgendwann einmal zum Guten wenden, nicht?

(Cecily beginnt, in ihrem Tagebuch zu schreiben)

Miss Prism (schüttelt den Kopf): Ich fürchte, nicht einmal jemand wie ich könnte jemand zum Guten beeinflussen, der unhaltbar schwach und charakterlos ist. Sogar der eigene Bruder gibt es zu. Diese neumodische Sucht, aus schlechten Menschen gute machen zu wollen, für die habe ich einfach kein Verständnis. Was ein Mann sät, dafür muß er auch zahlen, ich meine das muß er auch ernten. Legen Sie Ihr Tagebuch weg, Cecily! Ich verstehe gar nicht, wofür Sie es überhaupt brauchen.

Cecily: Um die spannenden Ereignisse in meinem Leben darin zu vermerken. Wenn ich sie nicht sofort aufschreibe, vergesse ich sie.

Miss Prism:  Das Gedächtnis, liebe Cecily, ist das Tagebuch, welches wir immer mit uns führen.

Cecily: Ja schon, aber bei guter Führung mangels Gelegenheit stehen dann Sachen drin, die nie passiert sind und auch nie passiert sein können. Ich glaube fast, es ist das Gedächtnis, das für fast alle dreibändigen Romane verantwortlich ist, die die Verlage jeden Monat mit neuem Eifer auf den Markt werfen.

Miss Prism: Sie sollten dreibändige Romane niemals geringschätzen, Cecily. Ich habe in jüngeren Jahren selbst einen verfaßt.

Cecily: Wirklich, Miss Prism! Das kann doch nicht wahr sein! Wie klug Sie sind! Ich hoffe doch, er hatte kein Happy End? Ich hasse Romane mit Happy End. Die können einen dermaßen deprimieren...

Miss Prism: Nur die Guten bekamen eins. Die Schlechten: alle tot. Das ist ja der Sinn von Literatur. Man weiß von Anfang an schon, wie es ausgehen wird.

Cecily: Gut möglich. Trotzdem ungerecht. Und ist er je veröffentlicht worden,  Ihr Roman?

Miss Prism: Nein. Das Manuskript wurde leider verlegt. Ich meine, es wurde leider nicht verlegt. Es ging unglücklicherweise verloren. Doch jetzt an die Arbeit, Kind! Nachdenken bringt uns nicht weiter.

Cecily (lächelnd): Aber offenbar andre. Wen sehe ich denn da! Das wird doch nicht unser lieber Dr. Chasuble sein! Soeben schreitet er ein. Mitten durch den Garten.

Miss Prism (steht auf und geht vorwärts): Dr. Chasuble! Nein, wie reizend! Was für ein Zufall!

 

 

(Auftritt Dr. Chasuble)

Chasuble: Und wie geht es uns heute morgen? Miss Prism, und auch Ihnen geht es hoffentlich gut?

Cecily: Miss Prism klagte vorhin über rasch anschwellende Kopfschmerzen. Ich glaube, ein kleiner Spaziergang im Park wäre jetzt nicht verkehrt, Dr. Chasuble.

Miss Prism: Aber Cecily! Ich habe kein Wort von Kopfschmerzen gesagt!

Cecily: Die kommen schon noch. Ich meine, ich sehe sie gerade ankommen, die Kopfschmerzen!  Nein, im Ernst, Miss Prism: Ich habe sogar mehr an Ihre Kopfschmerzen als an meine Deutschstunde gedacht, als der Herr Pfarrer kam, um uns zu erlösen.

Chasuble: Das mit der Erlösung war ein andrer Herr. Ich hoffe, Sie konzentrieren sich mehr auf Ihren Unterricht, Cecily!

Cecily: Ich tue doch nichts andres mehr.

Chasuble: Na, ich weiß nicht... sieht mir nicht danach aus... Wenn ich das Glück hätte, Miss Prisms Schüler zu sein, ich würde an ihren Lippen hängen. (Miss Prism reißt die Augen auf) Metaphorisch gesprochen natürlich nur. Ich entnehme meine Metaphern ausschließlich dem Honig, ich meine den Bienen und Blüten, ähem. Mr. Worthing ist vermutlich noch nicht aus der Stadt zurück?

Miss Prism: Wir erwarten ihn nicht vor Montag nachmittag.

Chasuble: Ach ja, stimmt, am Sonntag ist er ja immer gern in London.  Wenigstens einer, der nicht dauernd nur auf sein Vergnügen aus ist. Ganz im Gegensatz zu diesem Unglücklichen, dem Bruder, wie man so hört. Den scheint überhaupt nichts andres zu interessieren. Aber ich darf Egeria und ihre Schülerin nun nicht länger stören...

Miss Prism: Egeria? Ich heiße vielmehr Laetitia, Dr. Chasuble!

Chasuble: Freut mich auch gleich viel mehr. (verbeugt sich) Nur eine kleine klassische Anspielung. Das kommt von diesen heidnischen Autoren, die ich beruflich immer lesen muß. Ich sehe Sie dann beide zur Abendandacht?

Miss Prism: Ich glaube, lieber Dr. Chasuble, ich werde doch einen Spaziergang mit Ihnen machen. Inzwischen sind meine Kopfschmerzen nämlich eingetroffen, und meistens hilft es, wenn ich sie ein wenig spazierenführe.

Chasuble: Aber mit Vergnügen, Miss Prism, mit dem größten Vergnügen. Wir könnten sogar bis zu den Schulgebäuden gehen und wieder zurück.

Miss Prism: Ja, bis zur Schule und dann wieder zurück. Wunderbar! Während ich fort bin, Miss Cecily, üben Sie Ihre Volkswirtschaft. Das Kapitel über den Verfall der Rupie können Sie sich sparen. Das regt Sie zu sehr auf.  Harte Währungsprobleme sind noch nichts für Sie. Zu melodramatisch.  (geht mit Dr. Chasuble ab)

Cecily: (nimmt die Bücher auf und wirft sie wütend auf den Tisch zurück) Grauenhafte Volkswirtschaft! Grauenhafte Geographie! Grauenhaftes, grauenhaftes Deutsch!

(Auftritt Merriman mit einer Visitenkarte auf einem Tablett)

Merriman: Mr. Ernst Worthing ist soeben mit dem Wagen vom Bahnhof gekommen. Sein Gepäck hat er auch mitgebracht.

Cecily (liest die Karte): Mr. Ernst Worthing, B.4, The Albany, West. Onkel Jacks Bruder! Na sowas. Haben sie ihm denn nicht gesagt, daß Mr. Worthing in der Stadt ist?

Merriman: Doch, Miss. Wie enttäuscht schien er mir da! Daraufhin  erwähnte ich, daß Sie und Miss Prism kurz im Garten weilten. Er erwiderte, auch ihm sei prinzipiell stets  an Kurzweil gelegen. Er will mit Ihnen reden. Unter vier Augen.

Cecily: Na, dann bitten Sie Mr. Ernst Worthing mal her. Am besten sagen Sie der Haushälterin, sie soll ein Zimmer für ihn richten.

Merriman: Zimmer wird hergerichtet. Ja, Miss.  (ab)

Cecily: Ich habe noch nie einen echt Verworfenen kennengelernt. Mir wird schon ganz mulmig. Ich hab richtig Angst, daß er aussieht wie jeder andre auch. (sieht ihn) Hab ichs nicht gesagt!

Algernon (zieht seinen Hut): Das ist doch gewiß meine kleine Nichte Cecily?!

Cecily: Sagen Sie, sehen Sie schlecht? Ich bin doch nicht klein. Ich bin schon ziemlich groß  für mein Alter. (Algernon ist einigermaßen verblüfft) Aber Ihre Cousine Cecily, die bin ich. Und Sie sind, wie ich Ihrer Karte entnehme, Onkel Jacks Bruder, mein Cousin Ernst. Mein Cousin Ernst, der vollkommen Verworfene.

Algernon:  Wenn schon, dann doch wohl der verworfene Vollkommene, Cousine Cecily. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie die Leute an mir hängen, wenn sie mich mal haben! Wie die Kletten!

Cecily: Also wenn Sie nicht verworfen sind, dann haben Sie uns entweder alle in unverzeihlicher Weise getäuscht, oder Sie müssen sich inzwischen wieder gefangen haben. Ich hoffe nur, Sie haben kein Doppelleben geführt. Sie können nicht gleichzeitig verworfen sein und hier auftauchen!  Sie sind doch nicht etwa ein guter Mensch geworden?! Also das wäre echt Heuchelei!

Algernon (schaut sie erstaunt an): Na ja. Ziemlich leichtsinnig war ich andrerseits schon, wenn ich mich wirklich angestrengt habe...

Cecily: Freut mich zu hören.

Algernon: Da wir schon mal beim Thema sind: Ich bin auf meine eigene unaufdringliche Weise sogar schon oft sowas von böse gewesen! Von oben bis unten!

Cecily: Kein Grund zum Stolz! Es muß doch wohl auch seine angenehmen Seiten gehabt haben, oder?

Algernon: Also an Ihrer Seite ist es entschieden angenehmer. Von hinten ist es aber auch nicht schlecht.

Cecily: Wieso sind Sie überhaupt da? Onkel Jack kommt doch erst am Montag nachmittag zurück.

Algernon: Also nein, jetzt bin ich aber tief enttäuscht! Ich muß doch mit dem ersten Zug Montag früh zurück. Ich habe einen geschäftlichen Termin, den ich unbedingt - verpassen muß.

Cecily: Können Sie den nicht hier verpassen?

Algernon: Leider nicht. Ich muß ihn in London verpassen.

Cecily: Na ja, einerseits weiß ich natürlich, wie wichtig es ist, einen Geschäftstermin zu verpassen, wenn man sich den Sinn für die Schönheiten des Lebens bewahren will. Andrerseits finde ich immer noch, Sie sollten lieber warten, bis Onkel Jack kommt. Dem können Sie dann in aller Ruhe eine verpassen. Zufällig weiß ich nämlich, daß er mit Ihnen über Ihre Auswanderung sprechen will.

Algernon: Über meine was??

Cecily: Ihre Auswanderung. Er ist nach London gefahren, um schon mal Ihre Aussteuer zu kaufen.

Algernon: Ich werde es nicht zulassen, daß die Steuer mich ausplündert oder daß  meine stattliche Erscheinung ausgerechnet von jemand wie ihm ausgestattet wird. Allein sein übler Krawattengeschmack! Mir wird ganz schlecht, wenn ich nur dran denke.... 

Cecily: Also Krawatten werden Sie dort keine brauchen, wo Sie hinkommen. Nach Australien. Onkel Jack schickt Sie hin.

Algernon: Australien! Lieber sterben!

Cecily: Australien sehen, dann sterben. Erst unlängst, ja, genau, am Mittwoch abend, beim Dinner, sagte er, Sie können wählen zwischen dem Diesseits, dem Jenseits und Australien.

Algernon: Also wirklich! Die Berichte über das Jenseits wie über Australien sind alles andre als positiv. Wenn man mich aber zwingt, würde ich das Jenseits vorziehen, bevor ich mich schlagen lasse.  Die Berichte über das Jenseits sind gewiß stark übertrieben. Allerdings würde ich mich notfalls auch mit einer Doppelladung Diesseits zufriedengeben, wenn ich Sie so anschaue, Cousine Cecily.

Cecily: Kann mir nicht vorstellen, wofür das Diesseits jemanden wie Sie brauchen könnte.

Algernon: Ich fürchte, für rein gar nichts. Darum hätte ich ja so gern, wenn Sie mich umdrehen, will sagen, wenn Sie mich bekehren könnten. Sie haben dafür immerhin  zwei Tage Zeit. Das wäre doch eine schöne Aufgabe, das heißt, wenn es Ihnen nicht zuviel ausmacht, Cousine Cecily.

Cecily: Also heute nachmittag fällt die Umkehr schon mal flach. Keine Zeit.

Algernon: Hätten Sie was dagegen, wenn ich heute nachmittag dann jemand andren flachlegen, ich meine, wenn ich mich allein oder maximal zu zweit bekehren würde?

Cecily: Scheint mir ein Kampf gegen Windmühlenflügel zu werden. Aber versuchen können Sies.

Algernon: Mach ich. Mir gehts schon viel besser. Bei diesen Aussichten!

Cecily: Sie sehen aber eher etwas schlechter aus.

Algernon: Das kommt vom Hungern.

Cecily: Wie dumm von mir! Ich hätte mir denken können, daß man regelmäßigen Nachschub an Nahrung braucht, wenn man ein neues Leben beginnen will. Auch das alte zu beenden scheint recht kräftezehrend zu sein. Kommen Sie doch rein!

Algernon: Danke vielmals. Darf ich mir zuerst noch eine Blume fürs Knopfloch nehmen? Die gehört für mich zum Essen einfach dazu.

Cecily: Eine Maréchal Niel vielleicht?

Algernon: Nein. Lieber irgendwas in Pink.

Cecily: Wieso? (schneidet eine rosa Rose ab)

Algernon: Weil Sie mich an eine rosa Rose gemahnen, Cousine Cecily. Good bye, England’s Rose!  Übrigens erinnert mich auch Geld immer an irgendwas, wenn ich es sehe. Keine Ahnung an was. Ich sehe es ja nicht oft.

Cecily: Was brauche ich Sie wegen einer Rose zu mahnen, wenn hier die Tausender nur so... ich meine, wenn Sie Tausende von original englischen Rosen hier direkt vor Ihrer Nase haben? Ich muß schon sagen! Sie reden ein komisches Zeugs daher! Miss Prism redet nie so mit mir. Nicht einmal auf Deutsch.

Algernon: Kurzsichtige alte Kuh. Klingt mir ganz danach. (Cecily steckt ihm die Rose ins Knopfloch) Sie sind das Hübscheste, was ich seit dem letzten Mal gesehen habe. Das ist übrigens schon eine Weile her, und damals hat es noch irgendwie anders ausgesehen. Wahrscheinlich macht es die weibliche Form.

Cecily: Miss Prism sagt, daß das Aussehen eine Falle sein und die Form zerbrechen kann.  Aber was ist schon die Form! Viel wichtiger ist, was drinnen ist.

Algernon: Eine Falle, aus der ein normaler Mann vielleicht gar nicht mehr raus will. Ein andrer allerdings schon. Und zwar bevor er überhaupt noch drinnen ist. Aber er schafft es nicht mehr bis zum Ausgang. Jetzt müssen eben Sie mir gefallen. Vielleicht ist ja was dran an Ihnen, will sagen, vielleicht springt ja für mich etwas raus dabei.

Cecily: Also ein normaler Mann würde mich niemals interessieren. Zu anstrengend. Die halten einen dauernd auf Trab, und nachher weiß man nicht,  wo hinten und wo vorne ist und was man mit ihm reden soll. Nur die Invertierten und die Vertierten habens drauf.

Algernon: Das entspricht auch meinen bescheidenen Erfahrungen, liebe Cecily.

(Sie gehen ins Haus. Miss Prism und Dr. Chasuble kommen zurück)

Miss Prism: Sie sind einfach zuviel allein, lieber Dr. Chasuble. Sie sollten heiraten. Einen Misanthropen kann ich ja noch verstehen, einen Gynäko-Anthropen jedoch nicht.

Chasuble (erschauernd): Einen Gynäkologen in den Tropen?  Was reden Sie da?

Miss Prism: Ich muß doch sehr bitten! Ich rede ordentlich Deutsch mit Ihnen.

Chasuble (gelehrtes Erschauern): Also wirklich,  unsinnige Neologismen aus Ihrem Mund habe ich nicht verdient. Die Lehre sowie die Praxis der Urkirche waren ausdrücklich gegen die Ehe gerichtet. Da kenne ich mich aus.

Miss Prism (lehrerhaft): Das muß der Grund sein, weshalb die Urkirche nicht überdauert hat. Sie scheinen nicht zu begreifen, lieber Doktor, daß ein Mann, der hartnäckig die Ehe verweigert, entweder eine ständige Versuchung darstellt oder ihr ständig unterliegen muß. Männer sollten lieber aufpassen. Und zwar in jeder Hinsicht. Gerade der Zölibat entleert die schwächeren Gefäße Gottes oft, bevor man noch schauen kann, ob überhaupt was drin war. 

Chasuble: Wieso sollte ein verheirateter Mann nicht genauso attraktiv sein?

Miss Prism: Kein verheirateter Mann ist je attraktiv. Außer eventuell für seine Frau.

Chasuble: Und oft angeblich nicht einmal für die.

Miss Prism: Das hängt davon ab, ob die Frau geistig und auch sonst genügend ausgereift ist. Die Reife einer Frau ist das einzige, worauf immer Verlaß ist. Junge Frauen sind für den menschlichen Genuß vollkommen ungeeignet. (Dr. Chasuble zuckt zusammen) Was diese unreifen Früchtchen betrifft, so bin wieder ich die Expertin, das können Sie mir glauben. Wo ist übrigens Cecily?

Chasuble: Vielleicht ist sie uns zu den Schulgebäuden gefolgt?

Miss Prism: Eher nicht. Sie meidet grundsätzlich alles, was auch nur nach Schule aussieht.

(Auftritt Jack, der langsam hinten aus dem Garten kommt. Er ist in tiefe Trauer gekleidet, mit Trauerflor am Hut und schwarzen Handschuhen)

Miss Prism: Mr. Worthing! Sie!

Chasuble: Mr. Worthing? Er?

Miss Prism: Was für eine Überraschung! Wir haben Sie nicht vor Montag nachmittag erwartet.

Jack (schüttelt Miss Prism mit tragischem Ausdruck die Hand): Ich bin früh und unerwartet zurückgeschieden, ich meine gekommen. Dr. Chasuble, ich hoffe, wenigstens Ihnen geht es noch gut.

Chasuble: Mein lieber Mr. Worthing, ich hoffe doch, diese Kleidung kündigt, ich meine kündet uns nicht von schrecklichem Unheil?

Jack: Mein Bruder.

Miss Prism: Noch mehr schändliche Schulden und sinnlose Vergeudung der Manneskraft?

Chasuble: Immer noch eine weitere Fortsetzung seines vergnügungssüchtigen Lebens?

Jack (schüttelt den Kopf): Es ist vollbracht. Er ist tot.

Chasuble: Ihr Bruder Ernst - tot?

Jack: Vollständig tot.

Miss Prism:  Das wird er sich merken!

Chasuble: Mein aufrichtiges Beileid, Mr. Worthing. Wenigstens können Sie sich damit trösten, daß Sie ihm stets der liebevollste aller Brüder waren.

Jack: Er hatte ja auch nur den einen. Der arme Ernst! Er hatte seine Fehler, aber das hat er nicht verdient. Er hat eigentlich überhaupt nie irgendwas verdient.

Chasuble: Wirklich sehr tragisch. Waren Sie bei ihm, als es zu Ende ging?

Jack: Leider nein. Er verstarb im Ausland, genauer gesagt in Paris. Typisch für ihn. Er hat es mir gestern noch telegrafiert, ich meine, der Manager des Grand Hotels hat.

Chasuble: Wurde zufällig die Todesursache erwähnt?

Jack: Offenbar eine starke Erkältung.

Miss Prism: Wie man sich bettet, so liegt man.

Chasuble (hebt die Hand): Erbarmen, Miss Prism! Keiner von uns ist vollkommen. Ich bin auch besonders empfindlich gegen Luftzüge. Wann und wo wird das Begräbnis stattfinden?

Jack: Nicht hier! Es scheint sein ausdrücklicher Wunsch gewesen zu sein, daß man ihn in Paris beerdigt.

Chasuble: In Paris! Das auch noch! (schüttelt den Kopf) Ich fürchte, er hat selbst im Tod wenig Ernst gezeigt. In Paris möchte ich jedenfalls nicht einmal begraben sein. Könnte ich mir auch gar nicht leisten. Zweifellos wünschen Sie, daß ich nächsten Sonntag in meiner Predigt eine kleine Anspielung auf dieses tragische Ereignis in Ihrer Familie mache? (Jack drückt ihm krampfartig die Hand) Meine Wüstenpredigt über das Manna ist zu jeder Gelegenheit einsatzbereit. Es bedarf nur geringer Anpassungsleistungen. Man kann die Mannapredigt freudig oder, wie in diesem Fall, auch schmerzlich oder negativ interpretieren. Es handelt sich um eine sogenannte Allzweckpredigt. (alle seufzen) Ich habe sie bereits zu Erntefesten und Taufen gehalten, ferner zu Konfirmationen, an Buß- und Bettagen wie an Festtagen. Das letzte Mal in der Kathedrale als Benefizveranstaltung zugunsten der Gesellschaft zur Verhütung des Befriedigungsnotstands in den oberen Klassen. Der Bischof war anwesend und von einigen Ausschweifungen äh Abschweifungen ziemlich beeindruckt.

Jack: Ah! Da fällt mir ein... Taufen haben Sie doch auch im Angebot, Dr. Chasuble? Das heißt, Sie wissen, wie man richtig tauft?! (Dr. Chasuble schaut verblüfft) Ich meine, Sie taufen doch ständig, oder?

Miss Prism: Leider kann ich nur bestätigen, daß dies eine der häufigsten Aufgaben des Pfarrers unserer Gemeinde darstellt. Über das Thema mußte ich bereits wiederholt  mit den ärmeren Klassen sprechen. Aber die hören einem ja nie zu. Sie scheinen einfach nicht begreifen zu wollen, was Sparsamkeit bedeutet.

Chasuble: Denken Sie da an ein bestimmtes Kind, Mr. Worthing? Ihr Bruder war doch unverheiratet, oder?

Jack: Mehr als unverheiratet.

Miss Prism: (bitter) Menschen, die sich ausschließlich ihrem Vergnügen hingeben, sind das meistens.

Jack: Es geht überhaupt nicht um irgendein Kind, lieber Doktor. Ich bin ja normalerweise kinderlieb, aber diesmal nicht. Eigentlich möchte ich selbst getauft werden. Und zwar heute nachmittag, wenn Sie nichts Besseres vorhaben.

Chasuble: Aber Mr. Worthing. Sie sind doch sicher schon getauft!

Jack: Kann mich nicht erinnern.

Chasuble: Haben Sie denn Grund zu zweifeln?

Jasck: Einen Grund finde ich schon noch. Natürlich weiß ich nicht, ob es Ihnen nicht irgendwie unangenehm ist oder ob Sie nicht finden, daß ich vielleicht eine Spur zu alt dafür bin?

Chasuble: Aber überhaupt nicht! Das Besprengen des Taufobjekts mit Wasser und insbesondere das Tauchen von Erwachsenen sind das übliche vorschriftsmäßige Verfahren.

Jack: Tauchen!

Chasuble: Fürchten Sie sich nicht! Sprengen allein genügt. Ich finde es sogar ratsam. Unser Wetter ist leider zu wechselhaft für so ziemlich alles. Zu welcher Uhrzeit wünschen Sie die Durchführung der Zeremonie?

Jack: Also ich komme dann so um fünf herum vorbei, in Ordnung?

Chasuble: Bestens. Um fünf habe ich bereits zwei ganz ähnliche Versuche vorzunehmen. Ein Fall von Zwillingen, ein Unfall, welcher sich kürzlich in einem der abgelegeneren Häuschen auf Ihrem Landgut ereignete. Das geht dann alles gleich in einem Aufwasch. Der Kindsvater ist dieser arme Fuhrmann Carter, also der schuftet sich noch kaputt, der Mann...

Jack: Naja. Ich weiß nicht, ob das sehr lustig ist, zusammen mit Babys getauft zu werden. Finde ich irgendwie kindisch. Ginge es nicht auch um halb fünf?

Chasuble: Noch besser! (nimmt seine Taschenuhr heraus) Aber jetzt möchte ich in einem Trauerhaus nicht länger stören, lieber Mr. Worthing. Ich kann nur an Sie appellieren, sich in Ihren Kummer nicht allzu sehr hineinzusteigern. Wir dürfen uns biegen, aber nicht beugen lassen. Was uns heute als schmerzliche Prüfung erscheint, kann morgen schon ein Segen sein.

Miss Prism: Mir kommt vor, als wäre man in diesem Haus für diese Art Segen sogar ganz besonders zugänglich.

(Auftritt Cecily, aus dem Haus)

Cecily: Onkel Jack! Was machst du denn hier? Wie mich das freut, daß du wieder da bist! Aber was hast du denn für schreckliche Sachen an? Zieh das sofort aus!

Miss Prism: Cecily!

Chasuble: Mein Kind! Mein armes Kind!

(Cecily geht auf Jack zu, er küßt sie melancholisch auf die Stirn)

Cecily: Was ist denn los, Onkel Jack? Was schaust du denn so unglücklich? Wo du doch Grund zur Freude hast! Du siehst aus, als müßtest du zum Zahnarzt. Und dabei hab ich so eine Überraschung für dich! Was glaubst du, wer im Speisezimmer sitzt? Dein Bruder!

Jack: Wer??

Cecily: Dein Bruder Ernst. Oder hast du sonst noch einen? Er ist vor einer halben Stunde angekommen.

Jack: Unsinn! Ich habe keinen Bruder.

Cecily: Oh, sag doch sowas nicht! Wie schlimm er sich in der Vergangenheit auch dir gegenüber benommen haben mag, er ist immer noch dein Bruder! Du kannst nicht so herzlos sein und ihn einfach verstoßen! Ich sage ihm, er soll aus dem Schrank, äh, aus dem Haus herauskommen, und du reichst ihm deine Hand, nicht wahr, Onkel Jack?! (läuft ins Haus zurück)

Chasuble: Na, wenn das keine wahre Frohbotschaft ist!

Miss Prism: Nachdem wir uns alle endlich mit seinem Verlust abgefunden hatten, kommt er schon wieder zurück! Ich finde, Auferstehungen haben etwas Bedrückendes an sich. Man fühlt sich danach immer irgendwie niedergeschlagen.

Jack: Mein Bruder im Speisezimmer?  Ich verstehe nur noch Bahnhof. Es ist einfach absurd.

(Auftritt Algernon und Cecily Hand in Hand. Sie gehen langsam auf Jack zu)

Jack: Gütiger Gott im Himmel!! (gibt Algernon ein Zeichen, daß er verschwinden soll)

Algernon: Bruder John. Ich bin extra aus der Stadt gekommen, um dir zu sagen, wie leid es mir tut, daß ich dir so viele Sorgen gemacht habe und daß ich mir jetzt ganz fest vorgenommen habe, in Zukunft ein besserer Mensch zu werden. (Jack starrt ihn an, ergreift seine Hand nicht)

Cecily: Du wirst doch deinem eigenen Bruder nicht den Handschlag abschlagen, Onkel Jack?

Jack: Nichts wird mich dazu bewegen, seine Hand nicht abzuschlagen, äh, ich meine nicht, äh.... Ich weiß nicht, was ich meine. Aber ich finde es absolut geschmacklos, daß er hergekommen ist. Er weiß ganz genau warum.

Cecily: Sei doch nicht so, Onkel Jack! Jeder Mensch hat seinen guten Kern. Man muß ihn nur vorher herausnehmen, bevor man den Menschen zu sich  nimmt. Ernst hat mir gerade von seinem armen kranken Freund Mr. Bunbury erzählt. Den besucht er richtig oft. Es muß doch einfach etwas Gutes in jemandem stecken, der sich so um einen armen Kranken kümmert und auf sein ganzes Vergnügen in London verzichtet, um an ein Schmerzenslager zu eilen und wieder fort und so weiter und so fort.

Jack: Und dann fort, aha! Er hat also über Bunbury gesprochen!

Cecily: Ja. Er hat mir alles über den armen Mr. Bunbury und dessen prekären Gesundheitszustand berichtet.

Jack: Bunbury! So. Nun, ich werde es nicht zulassen, daß er mit dir über diesen Bunbury spricht. Oder überhaupt über irgendetwas. Damit kann er einen in den Wahnsinn treiben.

Algernon: Ich gebe natürlich zu, daß die Fehler ganz auf meiner Seite sind, wie immer. Andrerseits berührt mich Bruder Johns Kälte mir gegenüber doch besonders schmerzlich. Ich hätte wirklich einen etwas liebevolleren Empfang erwartet. Wo ich doch zum ersten Mal hier bin.

Cecily: Onkel Jack! Wenn du Ernst jetzt nicht die Hand reichst, werde ich dir das niemals verzeihen.

Jack: Mir niemals verzeihen? Mir??

Cecily: Nein! Nie nie nie!

Jack: Na schön, aber das ist wirklich das allerletzte Mal. (schüttelt Algernon die Hand und starrt ihn dabei wütend an)

Chasuble: Nein wie wunderfein! Es ist doch immer ein Vergnügen zu sehen, wieviel Unheil Liebe und Versöhnung unter den Menschen anrichten können! Ich finde, wir sollten die beiden wiedervereinten Brüder jetzt allein lassen, um sie bei ihrer Vereinigung nicht weiter zu stören.

Miss Prism: Cecily, Sie kommen mit uns!

Cecily: Natürlich, Miss Prism. Mein spontanes Versöhnungswerk ist ja nun vollzogen.

Chasuble: Und Sie haben damit wirklich ein gutes Werk getan, mein liebes Kind.

Miss Prism: Wir dürfen nicht vorschnell urteilen. Zumindest nicht bevor der Vollzug überhaupt stattgefunden hat.

Cecily: Ach, wie  glücklich bin ich jetzt! (alle ab)

Jack: Jetzt ziehst du also hier deine Nummer ab, du elendes Mistvieh! Algy,  du mußt so schnell wie möglich von hier verschwinden! Jetzt können wir noch sagen, es sei dein Geist gewesen. Später geht das nicht mehr. Ich dulde hier keinerlei Bunburysieren! (Auftritt Merriman)

Merriman: Ich habe die Sachen von Mr. Ernst in das Zimmer neben Ihrem gebracht, Sir. Ich nehme mal an, Sie wollen es so.

Jack: Was??

Merriman: Das Gepäck von Mr. Ernst, Sir. Ich habe es bereits ausgepackt und im Zimmer neben dem Ihrem auf die Deponie getan.

Jack: Sein Gepäck???

Merriman: Sehr wohl, Sir. Drei Handkoffer, einen Kulturbeutel, zwei Hutschachteln und einen großen Picknickkorb.

Algernon: Leider kann ich diesmal nicht länger als eine Woche bleiben.

Jack: Merriman! Sofort den Wagen für die Hunde! Das ist unser schnellster. Mr. Ernst erlag ganz plötzlich dem Ruf der Wildnis, ich meine einem dringenden Ruf in die Stadt.

Merriman: Sehr wohl, Sir. (geht ins Haus zurück)

Algernon: Du bist doch wirklich ein grauenvoller Lügner! Es gab gar keinen Ruf, egal wohin.

Jack: Doch. Es waren die Posaunen von Jericho.

Algernon: Also ich hab nichts gehört.

Jack: Schon deine Pflicht als Gentleman ruft dich gebieterisch zurück.

Algernon: Also die hat mich noch nie gerufen und mir noch viel weniger bei irgendwas dreingeredet.

Jack: Wer wüßte das besser als ich.

Algernon: Also Cecily ist jedenfalls ein Schatz! Wenn man auf sowas steht natürlich nur. Vielleicht tu ich das noch.

Jack: Du hast dich über Miss Cardew nicht in dieser Weise zu äußern. Das gefällt mir nicht.

Algernon: Und was mir nicht gefällt, ist deine Kleidung. Du siehst vollkommen lächerlich aus. Also wirklich... warum gehst du nicht rauf und ziehst dich um? Es ist kindisch, einen Mann dermaßen zu betrauern, der gerade für eine ganze Woche zu Gast in deinem Haus weilt. Um nicht zu sagen grotesk.

Jack: Du bleibst ganz bestimmt nicht eine Woche hier, weder als Gast noch als sonstwas. Du mußt weg - mit dem Zug um vier Uhr fünf.

Algernon: Auf keinen Fall werde ich dich verlassen! Ich werde dir beistehen, solange du in Trauer bist. Alles andre wäre höchst unkameradschaftlich von mir. Du würdest umgekehrt ja auch bei mir bleiben, wenn ich in Trauer wäre.  Ich fände es zumindest sehr unnett, wenn du es nicht tätest.

Jack: Na schön. Wenn ich mich umziehe - verziehst du dich dann endlich?

Algernon: Ja. Wenn du nicht zu lange brauchst. Ich habe noch nie jemanden erlebt, der so lange zum Anziehen braucht, und das mit so magerem Ergebnis.

Jack: Jedenfalls besser als dauernd overdressed wie du!

Algernon: Auffällige Kleidung wird bei mir durch auffallende Kultiviertheit stets und reichlich kompensiert.

Jack: Deine Eitelkeit ist einfach lächerlich, dein Benehmen eine Schande und deine Anwesenheit in meinem Garten absolut jenseitig.

Algernon: Na ja, schließlich komme ich doch direkt von dort.

Jack: Egal woher du kommst, nehmen tust du jetzt den Zug um vier Uhr fünf. Ich hoffe, du hast eine angenehme Rückfahrt in die Stadt. Diesmal war dein Bunburysieren ein Schuß, der nach hinten losgegangen ist. Das schwöre ich dir. Und daß du mir deinen Doppellader mitnimmst! Hier läßt du ihn nicht, kapiert?

(geht ins Haus)

Algernon: Also ich finde irgendwie schon, daß es ein Erfolg war. Ich habe mich soeben in Cecily verliebt. Das ging ruckzuck! Wie meistens bei mir. Und schon zählt für mich derzeit nichts andres mehr auf der Welt. Außer dem, was ich später in aller Ruhe noch einmal nachzählen werde.  Das Ergebnis  gefällt mir aber schon jetzt, soweit ich es abschätzen kann. In jeder Hinsicht. (Auftritt Cecily hinten im Garten. Sie nimmt eine Gießkanne und fängt an, die Blumen zu gießen) Ich muß unbedingt mit ihr sprechen, bevor ich abreise. Ich könnte ihr auch noch schnell meinen Bunbury zeigen. Der wird sie umhauen. Ah, da ist sie ja!

Cecily: Oh, ich bin nur zurückgekommen, um die Rosen nachzugießen. Ich dachte, Sie wären bei Onkel Jack?

Algernon: Er ist weggegangen. Er holt grade den Wagen.

Cecily: Oh, wollt ihr eine kleine Spritztour machen?

Algernon: Er will mich wegschicken.

Cecily: So müssen wir uns trennen?

Algernon: Leider. Sehr schmerzliche Trennung meinerseits.

Cecily: Trennungen sind immer schmerzlich. Auch wenn man sich erst kurze Zeit gekannt hat. Die Abwesenheit von alten Freunden kann man ja noch irgendwie verkraften. Aber selbst eine vorübergehende Trennung von jemand, den man grade erst kennengelernt hat, ist beinahe unerträglich.

Algernon: Es ist eine Trennung auf Abruf. Danke. (Auftritt Merriman)

Merriman: Der hergerufene Wagen steht vor der Tür, Sir.

(Algernon schaut Cecily flehentlich an)

Cecily: Der Wagen kann doch sicher warten, Merriman.... fünf Minuten!

Merriman: Er kann, Miss. Obwohl er ungeduldig ist. (ab)

Algernon: Ich hoffe, Cecily, es ist keine Beleidigung für Sie, wenn ich an dieser Stelle die Erklärung abgebe, daß Sie für mich die unsichtbare Petrifizierung, ich meine die sichtbare  Personifizierung der absoluten Vollkommenheit darstellen. So. Das wars.

Cecily: Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, mein lieber Ernst. Wenn Sie erlauben, werde ich Ihre Bemerkung in meinem Tagebuch notieren. (geht zum Tisch und beginnt, in ihr Tagebuch zu schreiben)

Algernon: Was, Sie führen wirklich Tagebuch? Und Ihr lieber Ernst kommt auch drin vor? Ich würde alles dafür geben, einmal hineinschauen zu dürfen!

Cecily: Oh nein! (legt die Hand drauf) Schauen Sie, es handelt sich um die Gedanken und Eindrücke eines sehr jungen Mädchens. Ausschließlich zur späteren  Veröffentlichung bestimmt. Wenn sie als Buch herauskommen, bestellen Sie hoffentlich ein Exemplar. Aber bitte, Ernst, hören Sie nicht auf! Ich schreibe furchtbar gern nach Diktat. Verreisen danach leider nie möglich. Alles was einem nicht diktiert wird, muß man eben selber erfinden. Also weiter im Text! Fahren Sie fort! Ich meine bleiben Sie da und sprechen Sie! Ich bin bereit.

Algernon (leicht verblüfft): Ähem! Ähem!

Cecily: Nicht husten! Wie soll ich denn das aufschreiben? Diktate sollten fließend erfolgen, so daß die Leute gar nicht merken, daß ihnen was diktiert wird. Soll ich etwa „hustet“ hinschreiben oder wie?

Algernon (sehr schnell sprechend, leiernd): Also Cecily, ich würde mal so sagen: Seit ich erstmals Ihrer unvergleichlichen Schönheit sowie Ihres Reichtums, ich meine des Reichtums Ihres Inneren gewahr wurde, wagte ich es, Sie ungestüm, leidenschaftlich, hingebungsvoll sowie hoffnungslos zu lieben.

Cecily: Da bin ich jetzt nicht ganz mitgekommen. Ungestüm und Leidenschaft sind Lehnwörter aus dem Deutschen, von denen habe ich schon gehört, aber was heißt hoffnungslos? Das macht doch wohl nicht viel Sinn, oder? Irgendwelche Hoffnungen werden Sie sich doch gemacht haben...

Algernon: Cecily!

Cecily: Wenigstens meinen Namen haben Sie sich gemerkt.

(Auftritt Merriman)

Merriman: Die Pferde sind angerichtet, Sir.

Algernon: Frieren Sie sie ein für nächste Woche! Selbe Stelle, selbe Welle.

Merriman (schaut Cecily an, die kein Zeichen gibt): Wird erledigt, Sir. (zieht sich zurück)

Cecily: Onkel Jack wäre sehr verärgert, wenn er wüßte, daß Sie bis nächste Woche hier an derselben Stelle auf derselben Welle einfach stehenbleiben wollen.

Algernon: Ich mache ohnedies prinzipiell nie was, ich meine ich mache mir aus niemandem etwas außer aus Ihnen. Daher liebe ich Sie und werde Sie zu diesem Zweck eben heiraten und Aus Schluß Sense. Das volle Programm. Sie werden doch jetzt keinen Rückzieher machen, nachdem Sie schon so weit gegangen sind?

Cecily: Schäfchen! Wo wir doch schon seit drei Monaten verlobt sind.

Algernon: Wie das? Seit drei Monaten?

Cecily: Am Donnerstag werden es drei Monate.

Algernon: Wie kam denn dies?

Cecily: Na ja, Onkel Jack hat uns doch gestanden, daß er einen jüngeren Bruder hat, der sehr böse und vollkommen verdorben ist. Natürlich haben wir, ich und Miss Prism, danach von nichts andrem mehr geredet. Und wenn man den Mann, von dem man spricht, noch nie gesehen hat,  dann wächst sein Reiz irgendwann ins Uferlose. Irgendwas muß einfach an ihm dran sein! Wahrscheinlich nichts, aber man glaubt es halt. Und so habe ich mich in Sie verliebt, Ernst!

Algernon: Liebste! Und wann wurde die Verlobung exekutiert, ich meine vollstreckt, wenn ich fragen darf?

Cecily: Am 14.2. dieses Jahres. Es hat mich völlig fertig gemacht, daß du nicht einmal weißt, daß ich überhaupt existiere. Daher beschloß ich, die Sache ein für allemal zu beenden und dir nach langem inneren Kampf das Jawort zu erteilen. Der Vollzug fand unter diesem lieben alten Baum statt. Am nächsten Tag kaufte ich diesen Ring in deinem Namen, ja, den mit dem Liebesknoten. Ich versprach dir, den Ring stets zu tragen und ihn niemals mehr abzulegen.

Algernon: Hervorragend. Vollzug bereits stattgefunden. Preziose für mich kostenlos. Also diesen Ring habe wirklich ich dir geschenkt? Wie lieb von mir! Er gefällt dir doch, oder?

Cecily: Du hast einen unheimlich guten Geschmack, Ernst. Ehrlich. Das war auch die  einzige Entschuldigung für deinen Lebenswandel.  Und in diesem Kästchen befinden sich all deine Liebesbriefe.  (kniet am Tisch nieder, öffnet ein Kästchen und holt einen Stapel mit einem blauen Bändchen verschnürte Briefe hervor)

Algernon: Also diese Frau erspart einem sogar das Schreiben. Ist sie nicht großartig? Aber meine Allerliebste, ich habe dir nie irgendwelche Briefe geschrieben! Mein erstes und letztes Gebot: Nie etwas Schriftliches! Es wird eh schon mehr als genug geschrieben.

Cecily: Daran brauchst du mich nun wirklich nicht zu erinnern, Ernst. Ich entsinne mich nur allzu gut, daß ich gezwungen war, diese Briefe selbst zu verfassen. Ich habe mir immer dreimal pro Woche geschrieben, manchmal auch öfter. Keine kleine Leistung.

Algernon: Oh, laß sie mich doch lesen, bittebitte, Cecily!

Cecily: Nein, das geht nicht. Dann wärst du noch viel eingebildeter, als du es ohnehin schon bist! (stellt das Kästchen zurück) Die drei, die du nach dem Bruch unseres Verlöbnisses geschrieben hast, sind dermaßen rührend und enthalten so viele Rechtschreibfehler, daß ich sie vor lauter Tränen selber kaum lesen konnte.

Algernon: Aber ist denn unsere Verlobung überhaupt gelöst worden?

Cecily: Selbstverständlich. Am 22.3. Du darfst den Eintrag sehen, wenn du magst. (zeigt eine Tagebuchstelle) „Heute habe ich meine Verlobung mit Ernst gelöst. Es ist besser so, das sagt mein Gefühl. Das Wetter ist weiterhin wunderbar. Das sagt der Wetterbericht.“

Algernon: Warum um Himmels willen hast du das getan? Und was habe ich getan? Doch sicher wie üblich überhaupt nichts! Cecily, es verletzt mich wirklich sehr, daß du unser Verlöbnis löstest. Noch dazu bei dem Wetter!

Cecily: Also ein Verlöbnis kann man wohl kaum ernsthaft nennen, wenn es nicht mindestens einmal gelöst worden ist. Ich habe dir übrigens noch vor dem Weekend vergeben.

Algernon (geht zu ihr und kniet nieder): Bringen wirs hinter uns! Was bist du doch für ein vollkommener Engel, Cecily!

Cecily: Wie lieb und romantisch du bist, das hätte ich ja gar nicht von dir erwartet, Ernst! (er küßt sie, sie fährt ihm mit den Fingern durchs Haar, wie eine Friseuse) Ich hoffe, das ist alles Natur...!

Algernon: Ja, Liebling, das ist alles reine Natur. With a little help from my friends... Weil ich es mir wert bin!

Cecily: Nein wie mich das freut!

Algernon: Aber jetzt wirst du unsere Verlobung doch nicht wieder lösen?

Cecily: Glaube eher nicht, daß ich sie jetzt noch lösen könnte, wo wir uns schon mal kennen. Außerdem hätten wir da noch ein nennenswertes Problem: den Namen.

Algernon (nervös): Ach ja, stimmt. Natürlich. Das kommt ja auch noch.

Cecily: Bitte lach mich nicht aus, Liebster, aber ich habe schon als kleines Mädchen davon geträumt, einmal jemanden zu lieben, der Ernst heißt. (Algernon steht auf, Cecily auch) Das ist endlich einmal ein Name, der einem sofort den nötigen Ernst und absolutes Vertrauen einflößt. Mir kann jede arme verheiratete Frau nur leidtun, deren Mann nicht Ernst heißt.

Algernon: Aber mein liebes Kind, willst du damit etwa sagen, daß du mich nicht lieben könntest, wenn ich anders heißen würde? Und wenn ich gar nichts hieße? Das wäre ja so, als könnte ich dich nicht heiraten, wenn du kein Geld hättest!

Cecily: Welcher Name schwebt dir denn zum Beispiel vor?

Algernon: Egal. Such dir einen aus! Algernon - beispielsweise...

Cecily: Also dieser Name gefällt mir schon mal überhaupt nicht.

Algernon: Aber mein lieber, süßer, zauberhafter kleiner Schatz, ich verstehe wirklich nicht, was du gegen den Namen Algernon haben könntest. Der Name ist doch gar nicht schlecht, oder?  Viele Aristokraten heißen so. Mindestens die Hälfte der Typen, die vor dem Konkursrichter landen, trägt den Namen Algernon! Wenn das nichts heißt! Aber jetzt im Ernst, Cecily... (geht zu ihr)... du könntest mich wirklich nicht lieben, wenn mein Name Algy wäre?

Cecily (steht auf): Keinesfalls. Ich könnte dich vielleicht respektieren, Ernst,  möglicherweise sogar deinen Charakter achten, aber ich fürchte, schon dabei würde meine Konzentration rasch nachlassen!

Algernon: Ähem. Cecily (nimmt seinen Hut) Euer Pfarrer hier ist, so darf ich doch wohl annehmen, mit sämtlichen Riten und Zeremonien der Kirche gründlich vertraut?

Cecily: Und die Kirche vertraut ihrerseits ihm. Dr. Chasuble ist ein wahrer Gelehrter. Der macht dir alles, was du willst. Er hat kein einziges Buch geschrieben. Das sagt doch wohl mehr als genug. Der hat schon mehr vergessen, als er je gewußt hat.

Algernon: Ich muß ihn sofort sprechen. Es geht um eine äußerst wichtige Nottaufe - ich meine, es geht um ein äußerst wichtiges Problem, äh, ich meine um ein sehr wichtiges Geschäft, das keinen Aufschub duldet.

Cecily: Oh! So schnell brauchen wir den Pfarrer nun auch wieder nicht!

Algernon: Doch, doch. Ich bin in längstens einer halben Stunde wieder zurück.

Cecily: Also wenn man bedenkt, daß wir seit dem 14. Februar verlobt sind und daß ich dich heute zum ersten Mal gesehen habe, finde ich es ziemlich hart, daß du mich so lange allein läßt! Gehts nicht auch in 20 Minuten?

Algernon: Bin im Handumdrehn wieder da! (küßt ihr die Hand und eilt durch den Garten davon)

Cecily: Na, wenigstens ist er ein Mann rascher Entschlüsse! Am allerbesten gefällt mir sein Haar. Die Farbe ist super. Ich muß seinen Antrag sofort ins Tagebuch eintragen. (Auftritt Merriman)

Merriman: Eine Miss Fairfax ist soeben eingetroffen. Sie wünscht Mr. Worthing zu sprechen. Es geht um Leben und Tod, sagt Miss Fairfax.

Cecily: Ist Mr. Worthing in der Bibliothek?

Merriman: Mr. Worthing zog vor einiger Zeit mit einer Kopflänge uneinholbar in Richtung Pfarrhaus davon.

Cecily: Bringen Sie die Dame hier heraus zu mir! Mr. Worthing ist sicher bald zurück. Und anschließend können Sie den Tee auftragen.

Merriman: Sehr wohl, Miss.

Cecily: Miss Fairfax! Das muß eine von den vielen wohltuenden Damen sein, die er von seiner philanthropischen Arbeit in London her kennt. Gegen solche Frauen hab ich grundsätzlich was. Die machen immer so auf fortschrittlich, aber selber schreiten wollen sie nicht, sie wollen dauernd nur über andre drüberfahren.

(Auftritt Merriman)

Merriman: Miss Fairfax.

(Auftritt Gwendolen. Merriman ab)

Cecily (geht ihr entgegen): Darf ich mich vorstellen... ich heiße Cecily Cardew.

Gwendolen: Cecily Cardew? (gibt ihr die Hand) Ein entzückender Name! Noch nie hab ich einen hübscheren gehört! Eine innere Stimme sagt mir, wir werden gute Freundinnen. Ich mag Sie ja jetzt schon mehr, als ich sagen kann. Meine ersten Eindrücke von Menschen stimmen immer.

Cecily: Wie lieb von Ihnen, daß Sie mich mögen. Wo wir uns doch erst verhältnismäßig kurz kennen. Bitte, nehmen Sie Platz!

Gwendolen (steht noch immer): Ich darf Sie doch Cecily nennen...

Cecily: Nichts würde mich mehr freuen!

Gwendolen: Und Sie nennen mich einfach Gwendolen, abgemacht?

Cecily: Wenn Sie es gern möchten.

Gwendolen: Das wäre also abgeklärt, nicht wahr?

Cecily: Ich hoffe so. (Pause. Sie setzen sich beide)

Gwendolen: Vielleicht sollte ich bei dieser günstigen Gelegenheit erwähnen, wer ich bin. Mein Vater ist Lord Bracknell. Je von ihm gehört?

Cecily: Glaube nicht.

Gwendolen: Macht ja nichts. Außerhalb des Familienkreises ist Papa zum Glück vollkommen unbekannt. Ist auch besser so. Der Wirkungskreis des Mannes sollte der häusliche Bereich sein. Wenn ein Mann anfängt, seine häuslichen Pflichten zu vernachlässigen, kriegt er immer sowas peinlich Weibisches, finden Sie nicht? Geradezu effeminiert! Ich schätze das gar nicht. Es macht die Männer gleich für andre so ungeheuer attraktiv, wenn sie ihre weibliche Seite nicht verleugnen, finden Sie nicht? Mama hat derart strenge Ansichten über Erziehung... und ihre Ansichten sind auch noch dermaßen kurzsichtig! Das gehört halt zum System, da kann man nichts machen. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich die Brille aufsetze?

Cecily: Aber gar nicht, Gwendolen. Von mir aus setzen Sie auf, was Sie wollen.

Gwendolen (nachdem sie Cecily aufmerksam durch ihre Brille/Lorgnette betrachtet hat): Sie weilen auf Kurzbesuch hier, nehme ich an.

Cecily: Keineswegs! Ich wohne hier.

Gwendolen (streng): Echt? Zweifellos wohnen auch Ihre Mutter und oder fakultativ der eine oder andre weibliche Verwandte fortgeschrittenen Alters ebenfalls hier?

Cecily: Aber nein! Ich habe keine Mutter und eigentlich so gut wie überhaupt keine Verwandten.

Gwendolen: Was Sie nicht sagen!

Cecily: Mein werter Vormund hat mit Hilfe von Miss Prism die verantwortungs- und mühevolle Aufgabe übernommen, sich um mich zu kümmern.

Gwendolen: Und Ihr kümmerlicher Vormund ist...?

Cecily: Genau der. Ich bin Mr. Worthings Mündel.

Gwendolen: Oh! Wie merkwürdig... er hat mir gegenüber niemals erwähnt, daß er Mundraub, ich meine daß er ein Mündel begangen hat. Da hat er echt ein Geheimnis draus gemacht! Soso. Er wird von Stunde zu Stunde interessanter für mich.  Was ich darüberhinaus noch fühle, darüber bin ich mir allerdings noch nicht ganz im klaren. Begeisterung scheint es schon mal nicht zu sein. (steht auf und geht zu ihr) Sie sind mir sehr sympathisch, Cecily. Ich konnte Sie von Anfang an gut leiden. Aber seit sich herausgestellt hat, daß Sie Mr. Worthings Mündel sind, hätte ich altersmäßig irgendwie... na ja... irgendwie andere Vorstellungen, was Sie betrifft, und auch aussehensmäßig... wenn ich es offen aussprechen darf...

Cecily: Tun Sie sich nur keinen Zwang an! Gerade die unangenehmen Sachen soll man am besten sofort frei heraus sagen.

Gwendolen: Also um noch offener zu sein, Cecily, mir wäre lieber, Sie wären mindestens zweiundvierzig und mehr als nur durchschnittlich unscheinbar für Ihr Alter. Ernst hat zwar einen starken und aufrechten Charakter, ich darf wohl sagen, er ist die personifizierte Wahrheit und Ehre und so weiter und so fort. Untreue wäre für ihn genauso unmöglich wie, sagen wir, schwere Täuschung oder Betrug in Tateinheit mit Unzucht. Doch selbst Männer von höchster moralischer Integrität sind nicht unempfänglich für den Einfluß physischer Reize von Fremdpersonen. Die moderne Geschichte versorgt uns, übrigens genau wie die alte,  mit vielen schmerzlichen und wenig lehrreichen Beispielen von dem, worauf anzuspielen ich mich jetzt gezwungen sehe. Wäre dem nicht so, müßte man die ganze Geschichte sofort umschreiben.  Und das wäre nun wirklich zuviel verlangt. Ich habe schließlich auch noch ein Tagebuch zu führen.

Cecily: Verstehe ich recht, Gwendolen, sagten Sie wirklich Ernst?

Gwendolen: Ja.

Cecily: Es ist jedoch nicht Mr. Ernst Worthing, welcher mein Vormund ist. Vielmehr sein Bruder, sein älterer Bruder, ist es.

Gwendolen (setzt sich wieder): Ernst hat mir gegenüber nie einen Bruder erwähnt.

Cecily: Leider verstehen sich die beiden schon seit langem gar nicht gut.

Gwendolen: Aha! Das erklärt alles. Und wenn ich so drüber nachdenke, habe ich auch noch nie gehört, daß ein Mann freiwillig seinen Bruder erwähnt hätte. Das Thema scheinen die meisten von ihnen notorisch zu vernachlässigen. Cecily, Sie haben mir einen Stein vom Herzen genommen. Ich hätte beinahe Angst bekommen. Es wäre schrecklich gewesen, wenn irgendeine Wolke unsere Freundschaft verfinstert hätte, finden Sie nicht? Und Sie sind wirklich ganz sicher, daß nicht Mr. Ernst Worthing Ihr Vormund ist?

Cecily: Ganz sicher. (Pause) Ich habe vielmehr vor, der Seine zu werden.

Gwendolen (forschend): Wie meinen?

Cecily (ziemlich schüchtern und vertraulich): Also Ihnen kann ichs ja anvertrauen, liebste Gwendolen... warum ein Geheimnis draus machen? Unser örtliches Lokalblatt wird die Tatsache ohnehin nächste Woche in großer Aufmachung bringen. Mr. Ernst Worthing und ich sind verlobt und werden folglich heiraten.

Gwendolen (sehr höflich, steht auf): Verzeihen Sie, aber ich fürchte, da müssen Sie irgendeine Folge mißverstanden haben. Mr. Ernst Worthing ist vielmehr mit mir verlobt, und wir sind es, die noch viel mehr heiraten werden. Die Anzeige erscheint spätestens am Samstag in der Gelben Frau im Spiegel.

Cecily (sehr höflich, steht auf): Ich fürchte, das Mißverständnis liegt ganz auf Ihrer Seite. Ernst hat mir vor genau zehn Minuten einen Heiratsantrag gemacht. (zeigt ihr das Tagebuch) Bitte, hier steht es bereits!

Gwendolen (betrachtet das Tagebuch aufmerksam durch ihre Lorgnette): Wie merkwürdig. Er hat mich gestern nachmittag um 5 Uhr 35 um meine Hand gebeten, und ich habe sie ihm nicht abgeschlagen. Falls Sie diesen Vorfall zu verifizieren wünschen, tun Sie es bitte. (holt selbst ein Tagebuch hervor) Ich reise niemals ohne Tagebuch. Bei Zugfahrten immer noch die spannendste Lektüre.  Es tut mir so leid, liebe Cecily, wenn das jetzt eine Enttäuschung für Sie sein wird, aber ich fürchte, ich habe die älteren Ansprüche.

Cecily: Ältere vielleicht, aber das zählt auch bei Testamenten nicht viel. Es würde mich sehr bedrücken, liebste Gwendolen, wenn ich Ihnen jetzt physische Qualen zubereiten sollte, aber ich fühle mich doch verpflichtet, darauf hinzuweisen, daß Ernst ganz offenkundig seine Meinung geändert hat, seit er Ihnen seinen Antrag machte.

Gwendolen  (nachdenklich): Wenn der arme Trottel an irgend so ein blödes Versprechen gebunden ist, das er einmal gegeben hat, sehe ich es geradezu als meine Pflicht an, ihn sofort mit fester Hand an die Kandare zu nehmen, um ihn mit Nachdruck vor jedem Ausbruchsversuch zu retten.

Cecily (nachdenklich und traurig): Egal, in welche Scheiße sich der Kerl schon wieder reingeritten hat, ich werde es ihm niemals vorwerfen, wenn wir erst mal verheiratet sind. Das gelobe ich hiermit feierlich.

Gwendolen: Was sagen Sie da, Miss Cardew? Woher diese Anmaßung? Was erlauben Sie sich... Zu sagen, was man denkt, ist in diesem Fall nicht nur eine moralische Verpflichtung, es ist geradezu ein Vergnügen. So sage ich Ihnen denn, was ich sagen muß... Sie sind nichts als ein blöder Trampel!

Cecily (unterbricht): Wollen Sie etwa sagen, daß ich Ernst in die Falle gelockt hätte? Daß ich ihn eingefangen habe? Sie wagen es? Ich glaube, es ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, die schale Schale der guten Erziehung abzuwerfen! Machen wir doch Nägel mit Köpfen! Schmeißen Sie sich die Treppe runter und schneiden Sie sich danach von mir aus auch noch die Pulsadern auf!

Gwendolen (spöttisch): Also ich lasse mir doch von einem kopflosen Nichts wie Ihnen nicht zeigen, was eine Harke ist.  Und was ein Nagel ist, das habe ich überhaupt noch nie gewußt und will es auch nicht wissen! Ich kenne dieses Gerät nicht. Offensichtlich war unser soziales Umfeld doch wohl sehr unterschiedlich.

Cecily: Wollen Sie im Ernst behaupten, Sie haben sich noch von niemandem nageln lassen?

(Auftritt Merriman, gefolgt vom Diener. Er trägt Tablett, Tischtuch und ein Gestell dafür. Cecily will Gwendolen grade antworten. Die Anwesenheit der Dienstboten übt jedoch einen gewissen dämpfenden Einfluß aus, worüber sich beide Frauen ärgern)

Merriman: Tee wie üblich hierorts, Miss?

Cecily: (finster, mit gefaßter Stimme): Ja. Wie an diesem Ort manchmal üblich.

(Merriman fängt an, den Tisch abzuräumen und das Tischtuch aufzulegen. Lange Pause. Cecily und Gwendolen starren einander wütend an)

Gwendolen: Gibt es in der Umgebung vielleicht irgendwelche interessanten Spazierwege, Miss Cardew?

Cecily: Oh ja! Es muß hier wohl ein ganze Menge von ihnen herumliegen. Oben von einem der Hügel drüben kann man fünf Grafschaften auf einmal sehen. Und wir haben auch einen Steinbruch, wo man recht bequem abstürzen kann.

Gwendolen: Gleich fünf auf einmal! Ich glaube nicht, daß mir das gefallen würde. Ich hasse Gedrängel!

Cecily (zuckersüß): Ach, darum leben Sie also in der Stadt! (Gwendolen beißt sich auf die Lippe und klopft sich nervös mit dem Sonnenschirm auf den Fuß)

Gwendolen (schaut sich um): Ziemlich gepflegt. Ich meine natürlich den Garten, Miss Cardew.

Cecily: Freut mich sehr, daß er Ihnen gefällt, Miss Fairfax. Ich könnte auch Ihnen eine sehr gute  neue Pflegeserie empfehlen....

Gwendolen: Ich wußte gar nicht, daß es auf dem Land auch so schöne Blumen gibt.

Cecily: Tja, Blumen gibt es hier massenhaft, Miss Fairfax. Genau wie Menschen in London.

Gwendolen: Ich persönlich habe noch nie jemand getroffen,  der auf dem Land länger überlebt hätte. Falls es so jemanden überhaupt gibt und er seine Ansprüche auf ein Mindestmaß zurückgeschraubt hat, ist er jedenfalls nie mehr zurückgekommen, um darüber zu berichten. Falls irgendein Niemand es einmal geschafft haben sollte, habe ich ihn jedenfalls nicht kennengelernt.

Cecily: Das also haben wir unter landwirtschaftlicher Depression zu verstehen! Ich habe mich schon gefragt, was das ist. Ich glaube, die Aristokratie leidet gegenwärtig besonders stark darunter. Es soll schon fast eine Epidemie sein. Habe ich zumindest gehört. Darf ich Ihnen Tee anbieten, Miss Fairfax?

Gwendolen (mit ausgesuchter Höflichkeit): Danke. (beiseite)  Rottweiler! Aber was soll ich machen, ich brauche jetzt einfach meinen Tee!

Cecily: (zuckersüß) Nehmen Sie Zucker?

Gwendolen (herablassend): Nein, danke. Man nimmt derzeit keinen Zucker zu sich. (Cecily schaut sie verärgert an, nimmt die Zuckerzange und wirft vier Stück Zucker in die Tasse)

Cecily (ernst): Kuchen oder Weißbrot mit Butter?

Gwendolen (gelangweilt): Weißbrot mit Butter, bitte. Seit Jahren habe ich keinen Kuchen mehr gesehen. In den besten Häusern nicht.

Cecily (schneidet ein sehr großes Stück Kuchen ab und legt es auf das Tablett): Dann reichen Sie das Miss Fairfax. Um ihre Bildung zu vervollständigen.

(Merriman tut es und geht mit dem Diener ab. Gwendolen trinkt den Tee und zieht eine Grimasse. Setzt die Tasse sofort ab, streckt die Hand nach dem Butterbrot aus, schaut es an und bemerkt, daß es Kuchen ist. Sie steht empört auf)

Gwendolen: Sie haben meinen armen unschuldigen Tee mit Zuckerwürfeln gesteinigt, und obwohl ich Sie laut und deutlich um Weißbrot mit Butter gebeten hatte, geben Sie mir diesen ekligen Kuchen da. Ich bin weithin bekannt für meine Sanftmut und meine liebenswürdige Art, aber ich warne Sie, Miss Cardew: Sie könnten einmal zu weit gehen! 

Cecily (steht auf): Ach was, ich kann sicher viel weiter gehen als Sie! In Ihren Kreisen sind die Weiber doch eh alle auf dem Bulimie-Trip! Stecken Sie sich halt den Finger in den Hals! Um meinen armen, unschuldigen, allzu vertrauensseligen Bubi vor den Intrigen und Machenschaften andrer zu bewahren,  würde ich sogar bis zum bittren Ende gehen!

Gwendolen: Ich wußte schon auf den ersten Blick, was Sie für eine sind. Ich habe viel Falschheit und Hinterlist gesehen, aber soviel wie bei Ihnen noch nie. Und ich kenne mich aus. Mein erster Eindruck von Menschen stimmt immer.

Cecily: Mir scheint, Miss Fairfax, daß ich Ihnen Ihre kostbare Zeit raube. Zweifellos haben Sie noch etliche, wahrscheinlich ganz ähnlich geartete Besuche in der Umgebung zu machen.

(Auftritt Jack)

Gwendolen (erblickt ihn): Ernst! Mein lieber Ernst!

Jack: Gwendolen! Liebste! (will sie küssen)

Gwendolen (weicht zurück): Moment mal bitte! Darf ich fragen, ob du mit dieser jungen Frau verlobt bist und sie heiraten willst?

Jack (lacht): Die liebe kleine Cecily! Also ganz bestimmt nicht! Wie kommst du denn auf diese Idee?

Gwendolen: Danke. Du darfst. Nimm zwei.

Cecily (ganz liebenswürdig): Na sehen Sie! Ich wußte doch, es kann nur ein Mißverständnis sein, Miss Fairfax. Der Herr, dessen Hand sich in diesem Moment um Ihre Taille schlingt wie eine Pflanze, ist mein lieber Vormund, Mr. John Worthing.

Gwendolen: Wie bitte?

Cecily: Na mein Onkel Jack! Wer sonst!

Gwendolen (zurückweichend): Jack! Ooooh! Nein!

(Auftritt Algernon)

Cecily: Das hier ist mein Ernst.

Algernon (geht geradewegs auf Cecily zu, ohne jemand anderen überhaupt wahrzunehmen): Meine Allerliebste! (will sie küssen)

Cecily (weicht zurück): Augenblick mal, Ernst! Dürfte ich vielleicht fragen, ob du mit dieser jungen Dame verlobt bist und sie zusätzlich auch noch heiraten willst?

Algernon (dreht sich um): Wo siehst du hier eine junge Dame? Ach so! Du lieber Himmel! Gwendolen! Was machst du denn hier?

Cecily: Ja. Der liebe Himmel Gwendolen, ich meine, Gwendolen, so heißt sie.

Algernon: (lacht) Heiraten! Aber nein! Ganz bestimmt nicht! Wie kommst du denn auf die Idee? 

Cecily: Danke, das genügt. (hält ihm die Wange zum Kuß hin) Du darfst.

(Algernon küßt sie)

Gwendolen: Ich wußte doch gleich, daß das Ganze ein Mißverständnis war, Miss Cardew! Der Herr, welcher gerade an Ihnen hochklettert,  ist mein Cousin, Algernon Moncrieff.

Cecily (macht sich von Algernon los): Algernon Moncrieff! Ooooh!

(Die beiden Frauen bewegen sich aufeinander zu und legen sich gegenseitig wie zum Schutz die Arme um die Taille)

Cecily: Du heißt Algernon? Wie grauenhaft!

Algernon: Ich kanns nicht leugnen.

Cecily: Ooooh!

Gwendolen: Und du heißt wirklich John? Entsetzlich!

Jack (steht ziemlich stolz da): Ich könnte es leugnen, wenn ich wollte. Ich kann überhaupt alles leugnen, wenn ich will. Aber nicht meinen Namen. Ich heiße ganz bestimmt John. Ich muß es doch wissen. Seit Jahren heiße ich John. Im Grunde schon immer.

Cecily (zu Gwendolen): Uns beiden ist schweres Unrecht zugefügt worden. Man hat uns hintergangen.

Gwendolen: Meine arme Cecily! Vorsätzliche Körperverletzung! Noch dazu aus dem Hinterhalt!

Cecily: Meine liebste Gwendolen! Schwere Körperverletzung, erschwert durch Betrug!

Gwendolen (langsam und ernst): Schwester! Ich darf dich doch so nennen?!

(Sie umarmen einander. Jack und Algernon gehen stöhnend auf und ab)

Cecily (ziemlich obergescheit): Ich möchte meinem Vormund nur eine einzige Frage stellen, wenn es gestattet ist.

Gwendolen: Großartige Idee! Ganz meinerseits. Mr. Worthing, ich habe nur eine einzige Frage an Sie: Wo ist Ihr Bruder Ernst? Wir beide sind mit Ihrem Bruder Ernst verlobt und wünschen, ihn zu heiraten. Daher ist die Frage nach dem derzeitigen Aufenthaltsort Ihres Bruders Ernst von äußerster Dringlichkeit für uns

Jack (langsam und zögernd): Gwendolen - ich meine Cecily - ach was... alle beide! Es ist sehr schmerzlich für mich, die Wahrheit zu sagen. Es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich in eine solch peinliche Lage gerate. Habe folglich keine Übung darin. Ich will euch aber ganz offen sagen, daß ich keinen Bruder Ernst besitze, nie einen besessen habe und auch nie auf einem sitzen werde. Ich habe überhaupt keinen Bruder, mein Leben lang nicht, und ich habe auch nicht vor, mir in Zukunft einen anzuschaffen. So.

Cecily (überrascht): Überhaupt keinerlei Bruder vorhanden!

Jack (fröhlich): Keiner.

Gwendolen (streng): Du hattest niemals wenigstens irgendeine Abart von Bruder?

Jack (freundlich): Nie.  Keinen. Nicht eine einmal eine Untergattung der Spezies Bruder.

Gwendolen: Ich fürchte, Cecily, wir müssen der Wahrheit ins Auge sehen. Keine von uns ist mit irgend jemand verlobt oder will irgend jemand heiraten.

Cecily: Das ist aber keine sehr angenehme Lage für ein junges Mädchen, oder?

Gwendolen: Nicht verlobt, nicht verheiratet, nicht verschwägert. Laß uns ins Haus gehen! Sie werden es kaum wagen, uns dorthin zu folgen.

Cecily: Sicher nicht. Männer sind sowas von feige, nicht wahr?

(Sie ziehen sich unter verächtlichen Blicken ins Haus zurück)

Jack: Wenn es das ist, was du unter Bunburysieren verstehst, dann ist es ein entsetzlicher Zustand. Keine Ahnung, wieso du immer so scharf drauf warst.

Algernon: Aber ja, da hast du einen! Sogar einen super Bunbury! Der beste, den ich je hatte. Sehr angenehm! Naja, mit kleinen Einschränkungen vielleicht.

Jack: Ich habe dir ausdrücklich verboten, deinen Bunbury hier zu aktivieren.

Algernon: Quatsch! Man kann überall bunburysieren, wo man will! Im Ernst!  Jeder ordentliche Doppellader wird dir das jederzeit bestätigen.

Jack: Ein Bunburysierer und ordentlich! Du spinnst ja! Du hast wohl mehr als die doppelte Menge geladen!

Algernon: Na ja, irgendwas muß man ja ernstnehmen im Leben, bei mir ist es halt das Vergnügen. Und das Bunburysieren mit einem gut geölten Doppellader ist für mich das allergrößte Vergnügen. Ich hab nicht die geringste Ahnung, was du ernstnimmst, wenn überhaupt irgendwas. Wahrscheinlich alles. Würde mich nicht wundern. Du bist so ein oberflächlicher Mensch!

Jack: Also was mich an der ganzen elenden Affäre am meisten freut, ist, daß dein Bunbury diesmal eindeutig einen Fehlschuß abgegeben hat! Unwiderruflich. Das dumme Huhn, das du diesmal getroffen hast, müssen wir überhaupt erst noch suchen. Und du wirst auch nicht mehr ganz so oft aufs Land fahren können wie früher, mein lieber Algy. Wird dir ganz gut tun.

Algernon: Aber dein Bruder ist auch irgendwo auf halbem Weg etwas verblaßt, nicht wahr, lieber Jack? Du wirst nicht mehr ganz so oft nach London verschwinden können, und auch ein paar liebgewordene Gewohnheiten wirst du aufgeben müssen. Wird dir sicher nicht schaden.

Jack: Also wie du dich Miss Cardew gegenüber benommen hast... ich muß schon sagen! Ein süßes, schlichtes, unschuldiges Mädchen dermaßen aufs Kreuz zu legen, das ist unverzeihlich! Daß sie mein Mündel ist, davon mal ganz abgesehen.

Algernon: Also flachgelegt hab ich sie noch nicht. Keine Zeit. Und abgesehen davon auch keine große Lust. Und wo wir schon dabei sind: Welche Entschuldigung hast du, eine intelligente, kluge, durch und durch erfahrene junge Dame wie Miss Fairfax dermaßen reinzulegen? Mal abgesehen von der Tatsache, daß sie meine Cousine ist...

Jack: Na ja, vielleicht war das der Grund... Jedenfalls wollte ich mich mit Gwendolen verloben. Das ist zwar keine Entschuldigung, aber immerhin ein guter Vorwand, egal für was. Ich liebe sie.

Algernon: Na ja, und ich wollte mich mit Cecily verloben. Ich bete sie an und aus. Wenn das kein Grund ist...

Jack: Es ist vollkommen ausgeschlossen, daß du Miss Cardew heiratest.

Algernon: Und ich halte es für äußerst unwahrscheinlich, Jack, daß du und Miss Fairfax jemals vereinigt werden können.

Jack:  Wieso geht dich das was an? Geschäft ist schließlich Geschäft.

Algernon: Also wenn es ein Geschäft wäre, würde ich ja auch nicht weiter darüber reden. (fängt an, Muffins zu essen) Über Geschäfte spricht man nicht, das ist sowas von ordinär. Das machen nur die Börsenmakler und auch nur auf Dinnerparties und auch nur, wenn sie gefragt werden. Nein. Meist tun sie es ungefragt.

Jack: Wie kannst du da so ruhig sitzen und fressen, wo du doch in so einer furchtbaren Lage bist! Ich verstehe dich nicht. Du kommst mir ausgesprochen herzlos vor.

Algernon:  Na ja, ich kann nicht gut aufgewühlt Muffins essen. Da bekleckere ich mir ja die Manschetten. Muffins sollte man immer ganz ruhig, gelassen und gleichförmig verspachteln. Anders gehts einfach nicht.

Jack: Ich sage ja, es ist vollkommen herzlos, in diesem Augenblick überhaupt Muffins zu fressen.

Algernon: In schwierigen Lagen ist Essen das einzige, was mich beruhigt. Ich kann dir sagen, und jeder, der mich näher kennt, wird es dir bestätigen: Außer Essen und Trinken verweigere ich alles, wenn ich echt in Schwierigkeiten bin. Im Moment esse ich Muffins, weil ich unglücklich bin. Sie sind meine  Lieblingsspeise. (steht auf)

Jack (steht auch auf): Das ist noch kein Grund, sie alle wegzuputzen. (nimmt ihm die Muffins weg)

Algernon (bietet ihm Teekuchen an): Die armen Lämmchen... Mir wäre lieber, du würdest Teekuchen essen.  Teekuchen mag ich überhaupt nicht.

Jack: Also wirklich! Ich muß schon sagen... ein Mann wird ja wohl noch in seinem eigenen Garten seine eigenen Muffins essen dürfen!

Algernon: Aber du hast doch gerade gesagt, Muffinessen ist herzlos.

Jack: Ich habe gesagt, es ist herzlos von dir! Das ist etwas ganz andres.

Algernon: Kann sein. Aber die Muffins bleiben dieselben. (er nimmt Jack den Teller mit Muffins weg)

Jack: Algy, es wäre mir wirklich lieber, wenn du endlich abhauen würdest.

Algernon: Du kannst mich nicht ohne Abendessen wegschicken. Das wäre absurd. Ich gehe niemals ohne Abendessen. Sowas machen nur Veganer und ähnliche Fanatiker. Aber die essen ja fast überhaupt nichts. Übrigens habe ich gerade mit Dr. Chasuble ausgemacht, daß er mich um dreiviertel sechs auf den Namen Ernst tauft.

Jack: Also jetzt hör mit dem Unsinn auf, mein lieber Freund! Ich habe schon heute früh mit Dr. Chasuble ausgemacht, daß ich selbst um 5 Uhr 30 auf den Namen Ernst getauft werde. Und diesen Namen werde ich dann selbstverständlich auch tragen. Gwendolen würde es so wollen. Wir können doch nicht alle beide auf den Namen Ernst getauft werden, das wäre absurd! Übrigens kann ich mich taufen lassen, wann und so oft ich will. Es gibt keinerlei Beweise dafür, daß ich überhaupt getauft worden bin, und so laß ich es halt jetzt machen und aus. Sogar Dr. Chasuble hält es für sehr wahrscheinlich, daß ich nicht getauft bin. In deinem Fall ist das ganz anders. Du bist bereits getauft.

Algernon: Aber schon seit Jahren nicht mehr!

Jack: Aber du bist es nun mal. Nur darauf kommt es an.

Algernon: Stimmt. Daher weiß ich auch, daß meine Konstitution es offenbar aushält. Ich muß schon sagen, wenn du noch nie getauft worden bist, kann das sehr gefährlich für dich werden. Du weißt schließlich nicht, worauf du dich da einläßt. Vielleicht wird dir schlecht davon. Was ist, wenn du es nicht verträgst? Wenn du dich verkühlst? Dürfte ich dich bei dieser Gelegenheit daran erinnern, daß ein naher Verwandter von dir erst diese Woche um ein Haar von einer starken Erkältung dahingerafft worden wäre?

Jack: Aber du hast doch selbst gesagt, daß Verkühlungen nicht erblich sind.

Algernon: Das war früher so. Ich weiß nicht, ob das jetzt noch gilt. Die Wissenschaft macht doch ständig Fortschritte....

Jack (nimmt den Teller mit den Muffins): Aber sie schreitet gewiß nicht in meine Richtung. So dumm ist sie nicht. Du redest wie immer völligen Schwachsinn...

Algernon: Jack, du gehst schon wieder an die Muffins! Das habe ich dir doch ausdrücklich verboten! Es sind nur noch zwei da (nimmt sie). Ich habe dir gesagt, daß ich die Muffins besonders gern habe.

Jack: Aber ich hasse Teekuchen!

Algernon: Und deine Gäste sollen ihn essen! Ist das deine Vorstellung von Gastfreundschaft?

Jack: Algernon! Ich habe dich bereits mehrmals weggeschickt. Ich will dich hier nicht haben. Warum gehst du nicht endlich?

Algernon: Ich bin doch noch nicht mit meinem Tee fertig! Und ein Muffin ist auch noch da. (Jack stöhnt und läßt sich auf einen Stuhl fallen. Algernon ißt weiter.)

Vorhang

 

 

Fotos: Ariane Hosemann, "Style" 1/2.2004

25.1.2004


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