Den Griff festhalten

zu den Filmen von Eva Meyer und Eran Schaerf

Gibt es Ihnen, wie mir, auch so zu denken, daß Sie beim Denken nicht wirklich denken? Da vergeht die Zeit, Sie vertreiben sie noch zusätzlich, wenn auch nur sich selber, und am Abend haben Sie schon wieder nicht gedacht. Film. Da vergeht auch die Zeit, und sicher ertappt man sich oft dabei, daß die vielen Meter durchs Hirn laufen, man hätte nicht gedacht, daß schon wieder eine Viertelstunde vergangen ist, man hat ja alles gesehen, aber man hat sich nichts gedacht dabei, das heißt man hat sich vielleicht was gedacht, aber man hat nicht gedacht. Es ist uns in diesem und jenem Film keine Gelegenheit gegeben worden, einen Bezug herzustellen zu dem, was wir gesehen haben, doch diese Art denkender Zueignung, so wie ich sie jetzt in Bezug auf die Filme von Eva Meyer und Eran Schaerf versuche, wobei ich natürlich in diesem Fall notwendigerweise ganz besonders scheitern muß, haben wir nicht fassen können. Wir haben zwar fassen können, was wir gesehen haben, aber nicht in dem Sinn, daß es in uns hineingekommen ist und wir ihm gefolgt wären, über die Zeit hinaus, die der Film gedauert hat. So. Diese Abzweigung haben wir jetzt verpaßt und die Wegkreuzung dort vorn auch. Wir sind unentschieden ausgegangen. Wir sind unentschieden aus dem Film hinausgegangen.

Mit den Filmen von Eva Meyer und Eran Schaerf geht das nicht, daß man so hinausgeht. Und es geht auch nicht, daß sie durch einen hindurchlaufen, mit der Zeit, in der Zeit.

Diese Filme sind nämlich codiert, das heißt, sie laufen dahin, aber sie laufen nicht allein, auch wenn sie von allein schon laufen können; wie soll ich es ausdrücken, mit dem, was wir da sehen und hören, ist eine Art Strichcode entstanden, der Informationen in sich vereint, gebündelt hat, von denen man keine einzige versäumen, nein, nicht darf: kann. Man kommt nicht umhin, diese divergierenden Codes, die aber unbedingt zusammengehören, so wie sie sind, aber nicht in dem Sinn, daß sie einander ergänzen oder gar illustrieren würden, sondern sie gehören zusammen, gerade weil sie diese Divergenz zu einer Einheit zusammenfassen, die nur so und nicht anders verlaufen kann, in sich zusammenzubringen, mit sich zu vereinen, auch wenn sie unvereinbar sein mögen. Gerade WEIL das ganze auch ganz anders ablaufen könnte, kann es nicht anders ablaufen. Das klingt natürlich paradox. Der Strichcode, der im Falle dieser Filme ein waagrechter Streifen ist, und zwar wirklich IST, besteht aus vielen senkrechten Streifen, Sprache, Bilder, Bildfetzen, Sequenzen, und die sind hart aneinandergeschnitten und gleichzeitig aneinander gehängt, sich wiederholend, aber nie genau gleich. Es sind Meßbänder, die Arme (z.B. meine!) entlangfahren, immer wieder, Kreidestreifen, die über Spielfelder laufen, Kabelrollen, die auf- und abgerollt werden, Straßen, Straßen, Straßen. Ich sage es jetzt einmal so in die Gegend: Diese Filme sind eine neue Art Schrift. Ich glaube das ist es. Eine Schrift, die sich selbst bedeutet, indem sie alles andere auch noch bedeutet. Diese Filme müssen gelesen, nicht aufgenommen und verstanden werden. Es sind Zeichen, die zusammengehören, indem sie eben nicht sofort und vordergründig irgendeinen Sinn ergeben, aber eins ist ohne das andere nicht möglich, und sie ergeben ein Drittes. Vielleicht ist es auch eine Art Kaleidoskop-Schrift, in der nichts mitgeteilt werden kann und alles, die Kamera ist plötzlich am Kopf eines Tänzers montiert, das tanzende Paar wird aus großer Höhe gefilmt; wie unten, am Grunde eines Schachts, drehen sie sich miteinander, es ist alles in den Film oben eingefüllt worden, und es fällt alles wiederum, immer wieder, auseinander und zu immer neuen Mustern zusammen, aber was hineingefüllt wurde, ist nicht mehr und nicht weniger als es ist. Es ist es. Es kommt nichts mehr von außen dazu. Schrift, die abgeschickt wird, nicht als Brief, sondern als ein Kürzel, das aber eigentlich ein Langes ist, denn die Filme laufen ja vor uns fleißig dahin. Was zusammengefaßt wird zu diesem Code, ist das Fremdeste, und, keine Angst, es wird Ihnen nie vertraut werden, es bleibt eine fremde, bisher unbekannte Schrift, die Sie sehen, und die Sie nicht sehen können, wenn Sie dabei eben nicht: denken. Die Abstraktionsleistung, die der Zuschauer, die Zuschauerin vollbringen muß, ist eben, die Schrift, den Vielfach-Code dieser Filme zu entschlüsseln, und zwar wird dieser Code geschrieben und gedacht (nicht mitgedacht! nur gedacht), indem wir diese Filme sehen, nicht indem wir sie danach interpretieren oder an ihnen herumrätseln, und zwar hinterher, wie man das bei Filmen normalerweise halt so tut. Wie sie gemeint sein könnten. So oder so? Sie sind das Gemeinte, und zwar in einem Ausmaß, wie ich es, auch nicht von Chris Marker, mit dessen Arbeiten man diese Filme vielleicht noch am ehesten vergleichen könnte (aber in den Filmen Markers wird etwas gesagt und etwas erklärt oder doch zumindest eine Erklärung divergierender Elemente, die in ihnen, durchaus neu und "ungewohnt", zusammengeführt werden, angeboten, während in den Filmen Meyers und Schaerfs nichts erklärt, sondern etwas: gesagt wird. Gesagt, gedacht. Nicht: gesagt, getan!), noch nicht erlebt habe. Das geht so weit, daß das Gezeigte gleichzeitig auch das Gedachte ist, aber nicht das Vo rgedachte, sondern das, was gleichzeitig von Ihnen, den Betrachtern, und den beiden Filmemachern gedacht wird, in dieser Zeiteinheit, und, egal ob Sie sich dasselbe denken oder etwas anderes, ich sehe, es ist wirklich schwer, das auszudrücken, jedenfalls denken Sie mit diesen Filmen gemeinsam, ohne daß man Ihnen gesagt hätte, was Sie davon zu denken, also: zu halten haben. Sie gehen da also einer Zeitspanne nach, aber eigentlich mit einer Zeitspanne mit, so lange die Filme dauern, und nichts versteht sich von selbst. Vielleicht ist gar nichts zu verstehen, aber es wird trotzdem gesagt, und es wird gedacht, ohne daß irgendetwas bewiesen werden müßte. Es ist ein Sehen und ein Denken sozusagen ohne Netz. Nichts wird also nachgewiesen oder auch nur behauptet, ohne Beweis, doch man zweifelt nicht, daß etwas so ist, wie es da gezeigt wird. Nicht, weil es so sein muß, sondern weil die Schrift, die da vor uns hingeschrieben wird, das und das sagt und auch so verstanden wird, denn es ist ja eben: Schrift. Schrift ist immer eindeutig für den, der sie lesen kann. Manchmal ist sie auch eindeutig gegen den, der sie lesen kann. Diese Filme sind also nicht dieses Bild und dieses dort auch noch, das man interpretieren könnte, so oder so, nein. Es ist Schrift, was Sie sehen. Und gerade indem Bild, Schnitt, Ton, jede Art von verwendetem Material nicht "zusammenpassen" und auch nicht zusammenpassen sollen, passen sie eben doch, weil sie sich gegenseitig "erhellen", wie Eva Meyer sagt, auch wenn sie einander widersprechen. Und das alles eben in der Zeiteinheit des Films. Das Denken wirft uns aus uns heraus, als ob wir in einem Müllsackl drinnen gesteckt hätten, gemeinsam mit Hühnerknochen, leeren Packungen, in denen einmal irgendwas drinnen war, Zigarettenstummeln, Getränkedosen und andrem Zeugs. Das wird jetzt umgekippt und hingeschüttet in die Ebene des Meinens, in der totale Anarchie herrscht, aber ganz lustig; der eine meint dies, der andre das, aber nur diese Filme ergeben daraus etwas, das nicht gemeint ist und doch wahr, und zwar als ein Gedachtes, das man auch noch sehen kann. Das Gemeinte trägt seine Schilder schon am Leib, seine Preisschildchen, seine Bezeichnungen, seine wortreichen Erklärungen. Je mehr Worte, umso mehr Lügen. Man sieht eine dunkle Straße, den Detektiv, die schöne Frau, das Fluchtauto, es macht Spaß, weil man weiß, was das bedeutet und was gleich passieren wird, man kann sich aber auch überraschen lassen, weil es eine verblüffende Wendung geben wird, das alles bedeutet dieser Film, also wir sehen, meist erst nachträglich: was das meint. Aber beim Gedachten, da muß erst nach-gedacht werden, doch meist ist das ein Hinterher-Denken. In diesen Filmen ist das anders. Vielleicht könnte man sagen, es ist ein Gleichzeitigdenken. Möglicherweise ist es so, daß man, indem man die Filme hören und gleichzeitig sehen kann, das macht ja den Tonfilm üblicherweise aus, indem man in Meyer/Schaerfs Filmen aber gleichzeitig etwas hört und sieht, hört und sieht man es, obwohl ebenfalls total Tonfilm, eben DOCH nicht gleichzeitig. Da sind diese Stimmen der Frauen, ein vielstimmiger Chor, eine Gruppe von Frauen der sechziger Jahre in einer Ausstellung koptischer Kunst, namens "Porträts einbalsamierter junger Frauen", im Film "Europa von weitem". Bezeichnenderweise wird dieser Film ein "Stummfilm und Hörspiel" genannt von der Autorin und dem Autor. Was wollen sie sagen? Sie wollen natürlich diesen Film sagen, der stumm ist, den man aber hören kann, das sind also schon einmal zwei Spuren, die eine ergeben, aber nicht diese eine, die man vom Tonfilm gewöhnt ist. Die Frauen sprechen miteinander, aber ihr Sprechen steht nicht allein da, es geht auch noch etwas Sichtbares mit ihnen mit, das nicht einen Film ergibt, sondern einen Denkfilm, wie ich es nennen würde, also das ist wirklich schwierig, weil man es e ben nicht sagen kann und nicht nach-sagen. Man kann nur schauen und es aufnehmen oder halt nicht in sich reinlassen.

Es geht nicht einfach nur um das leise Herannahen und Vorbeiziehen von laufenden Metern, wobei das Sprechen das Bild nicht unterstützt und das Bild das Sprechen nicht illustriert, wo alles auseinanderläuft, aber so etwas erleben wir inzwischen in anderen Filmen ja auch. Es geht also nicht einfach um diese Divergenz, es kann ja jedes für sich verhandelt werden. Aber es ist nicht jedes ein An Und Für Sich. Liegt die Fremdheit dieser Kunstwerke, dieser Vielschichtigkeiten, die alle eben eine neue Art der Verschriftung ergeben, darin, daß sie nicht einfach Kritik am Bestehenden sind oder dessen Erhellung oder Erklärung? Man erwartet sich dauernd diese Erklärungen, denn die Filme arbeiten wie spielen mit Fremdheit, und Fremdheit ist etwas, das sich sofort dialektisch zum Eigenen setzt und erklärt werden soll, auch wenn es das gar nicht will. Fremdheit ist ein wesentliches Element dieser Filme, und es wirkt vor allem bei jemandem wie mir ganz besonders schön fremd, der wenig gereist ist in seinem Leben. Aber diese Fremdheit, die, z.B. in "Documentary Credit", auch immer, in dieser Zeit der Lager, der Entwurzelten, der Emigranten (der Emigrant ist der Mensch des vergangenen und, wie ich fürchte, auch dieses Jahrhunderts), der Ausrottung und Vertreibung, niemals eine folkloristische mehr sein kann, ungeachtet aller "Traumschiffe" und ähnlicher populärer Freuden für unsere lieben Fernreisenden, die vor gähnend vollen Reisebüros stehen und wo andershin wollen, jedenfalls auf keinen Fall dort bleiben wollen, wo sie gerade sind oder schon einmal gewesen sind; nein, die Fremdheit ist vielmehr endgültig vom Schönen, Harmlosen und Natürlichen zum Schrecken im Eigenen, in der eigenen Behaglichkeit und Selbstgewißheit, eben im eigenen "Meinen" geworden, das bei den meisten von uns ja schon Sicherheit bedeutet, egal wo sie sich gerade aufhalten. Diese fundamentale Unsicherheit des Fremden kann nicht mehr in die Siche rheit des Betrachters und seiner festgefügten Meinungen umgewandelt werden, nicht einmal dann, wenn er offen wäre, für ganz neue Meinungen und Betrachtungsweisen. Diese Schriften passen nicht zusammen, werden nie mehr zusammenpassen und können auch nicht mehr übersetzt oder verstanden werden. Sie können nur noch solche Filme ergeben, die, wie gesagt, eine neue Art Schrift bedeuten, eine, die noch nicht dagewesen ist. Beginnen wir unverzüglich mit dem Entziffern.

Die Fremden sind ja vorher auch nicht da gewesen, aber jetzt sind sie es. Da. Auf der Straßenkreuzung im Niemandsland, wo Menschen zweier Nationen, der israelischen wie der palästinensischen, ihre Waren tauschen, weil sie sich das bei sich selber zuhause nicht trauen (sie müssen sich ins Nichts begeben, um miteinander in diesen ursprünglichsten aller Kontakte, außer der Liebe, in den Handel eintreten zu können - und man sagt ja Handel und Wandel - noch nie habe ich das so verstanden wie im Film "documentary credit". Nach einem solchen Handel kann keiner mehr derselbe sein, der er vorher war), Straßen, die durcheinander kritzeln, Wüsteneien, Brachland, Abfälle, regenüberwaschene Fassaden, das Gras zwischen Steinen, Fernsehantennen, immer wieder, Minarette, Schriftzeichen, Schrift in der Filmschrift, hebräisch, arabisch, Schriften auf T-Shirts, Aufschriften auf Lebensmittelpackungen, gestapelt wie Menschen am Flughafen, die auf ihre Angehörigen warten, Lastenträger mit ihren Umzugsgurten neben ihren Lastwagen, darauf wartend, irgendetwas herumtragen zu dürfen, die in die Luft ragenden Eisenarmierungen von Häusern, die auf sich selber aufgebaut werden, indem die Menschen bereits in ihnen wohnten, während sie über sich noch ihre Häuser häuften, die doch nie fertig werden. All religions - best prices! Ja, alles. Radiosender: men to men, women to women, das einzige monosexuelle Radioprogramm! Das was zueinander gehört, und das dadurch ganz besonders fremd wird und daher immer wieder neu geschrieben werden muß, nicht indem man es erklärt, sondern indem man es, wie gesagt, mit einer neuen Schrift neu schreibt, weil die alte Schrift dafür nicht mehr ausreicht. Das heißt schreibt. Das heißt denkt. Ist das harmlos und schön, wenn der jüdische Arzt die arabische Frau untersucht, angewiesen dabei auf die Hilfe eines Übersetzers, der auf Körperteile zeigt? Es ist vielleicht harmlos und schön, und es sagt uns etwas, aber so wie wir es hier sehen, sagt es sich selbst, ohne daß etwas Selbstverständliches daraus würde. Hören wir Begriffe und Bezeichnungen und Erklärungen in ihrer schrecklichen Eindeutigkeit, hören wir sie, aber so wie wir sie in diesen Filmen hören, sind sie etwas anderes geworden. Gerade indem sie durch das doch immer noch sehr technische Verfahren einer Ver- Filmung gelaufen sind, sind sie nicht in Film übersetzt worden, sondern sie sind Film als solcher, eben als eine neue Sprache. Vielleicht eine gegen die Gewalt des Eingleisigen, Vordergründigen, Erklärenden, die alle nirgendwohin führen, nein, sie führt wirklich nirgendwohin, sie bringt uns nicht weiter, diese Eingleisbahn, die keinen Hintergrund hat, der, als Landschaft, an ihr vorbeigezogen werden könnte, und keinen Gegenstand, denn der verschwindet ja, je mehr er "erklärt wird".

Diese Filme führen energisch weg von den Bezeichnungen. Und damit führen sie weg vom Vorgedachten, Vorgefertigten, Gewußten, und hinein ins Denken, ich kann es nicht anders nennen. Wir laufen neben diesen Filmen her, strecken manchmal eine Hand aus, damit wir, einen Haltegriff umklammernd, mit den dahinrasenden Kadern Schritt halten können, um einmal, im passenden Moment, aufzuspringen, nicht abgeschüttelt zu werden, hineinzukommen, wo wir hinwollen, aber dann merken wir, daß wir die ganze Zeit drinnen gewesen sind. Wir sind nicht ausgestoßen worden. Wir sind drin, weil wir uns nichts mehr vorstellen müssen. Gerade indem diese Filme sich wieder entziehen, ihr Geheimnis behalten, denn wir haben diese Schrift noch nicht gelernt, sind wir in ihnen und haben gar nichts mehr zu lernen. Sie sagen etwas, diese Filme. Nein, sie SIND das Gesagte. Wir können uns nicht unseren Teil dazu denken, denn unser Teil wäre doch schon das Denken, das ohne diese Filme, die sich an das Gezeigte heften und es neu sagen, nicht möglich wäre.


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