Dieses störende Dings, das lebt

für Tankred Dorst

Leben ist ein harmloser Name. So kann jeder heißen, der uns vorliegt und bald für immer da liegen wird, nur einen Augenblick noch, dann ist es soweit! Dann liegt er uns schon vor, wie ein Essen, das rasch kalt wird. Das Leben kann weggezweifelt werden, zumindest sein Sinn, aber da liegt trotzdem was, und das ist unbezweifelbar, auch wenn es stört. Wen stört es? Na, mich nicht. Stört das Leben sich selbst? Auch im Zweifel ist ich ja ich, aber ich bin nicht das Leben selbst, und ich sehe auch nicht so aus, als wäre ich es. Was lebt, stört und wird gestört. Das Ich verliert darin seine Bedeutung, weil es zu oft gestört hat. Ein Schüler, der in der Schule zu oft aufgezeigt hat und damit allen auf die Nerven gegangen ist. Nennen wir ihn Ich, diesen Schüler, der da die ganze Zeit stört. Er gibt vor, zuviel zu wissen, es muß aus ihm heraus! Wenn Blicke ihn töten könnten, hätten sie es schon getan. Aber Blicke können nichts, und sie können nichts dafür, und vielleicht kann auch dieser Schüler nichts dafür, daß er stört. Er stört, weil er vorhanden ist. Dahinter steht nichts weniger Harmloses als: ich. Ich ist ein Name, aber eben kein harmloser. Hinter diesem Namen steht der ganze Schrecken dessen, was ich ermögliche und das Ich ermöglichen kann. Das Ich ist alles, was gefaßt werden und fassen kann. Es ist störend, wenn überhaupt etwas gefaßt werden kann. Man verliert leicht die Fassung dabei, wenn man versucht, etwas zu fassen. Alle Bemühungen in diese Richtung führen nur dazu, daß jemand mit der Behebung dieser Ich-Störung befaßt wird. Wie leidenschaftlich das zu irgendetwas führen soll! Ich bin gerührt, das stört sicher niemanden. Daß etwas, das störend ist, nicht mit dem Ich ident sein muß, aber ein Ich ist, indem es lebt, also daß dieses störende Etwas in all seiner Leidenschaft nur eins bewirken will: daß es eben nicht irgendetwas ist, ein Ding, ein beliebiges, oft unbeliebtes, immer jedoch unbelebtes Ding, sondern daß dieses Ich nicht als Ding erscheinen darf (obwohl es oft als solches Verwendung gefunden hat, mit Vorliebe beim Kaputtmachen des Dings) sondern als Nicht-Ding, als Subjekt, mit einem guten Subjektcharakter (oder eben einem schlechten, je nachdem) ausgestattet. Aber komisch: Je mehr man auf dieses Ich als störendes und zerstörerisches Subjekt pocht, umso mehr verliert es diesen Charakter des Subjekts. Dieses Subjekt hat eh weder einen guten noch einen schlechten Charakter, aber was immer es hatte, jetzt hat es auf jeden Fall nichts mehr. Mir scheint, es mußte seinen Charakter ablegen. Falls Sie Ihren Charakter noch nicht abgelegt haben, ich meine Ihren Ichcharakter, dann komme ich und nehme ihn Ihnen persönlich ab. Ich komme zu jedem und nehme dem Subjekt seinen Subjektcharakter ab, und dabei merke ich: es hat gar keinen. Dieses störende Dings, das lebt, dieses Ding, dieses Dingsbums, dem ich seinen Charakter genommen habe, um es auf den Weg der Besinnung und Umkehr zu bringen, um es endlich zu zwingen, seinen Sachcharakter zuzugeben (na, irgendeinen Charakter muß es ja haben, und Subjekt darf es nicht sein, kann es nicht sein), dem nehme ich nun auch noch seinen Aberglauben, seinen matten Schimmer, es könne etwas Ursprüngliches sein,  etwas Unbeschriftetes, etwas, das einen guten Kern hat oder einen schlechten. Etwas, in dem was drinnen ist, das das Subjekt selbst stört und uns alle mit. Wenn wir uns bloß vorstellen, wozu dieses Subjekt imstande sein könnte und daher imstande ist! Der Schein, daß, was lebt, stört, ist eine optische Täuschung, auch eine gedankliche. Denn was lebt, kommt weg, ob es nun stört oder nicht. Das, was stört, hat keine Zeit mehr, sich selbst zu betrachten und zur Besinnung seiner selbst zu kommen, denn es ist abhandengekommen, sich selbst.

 

24.1.2006

 

Erschienen in: "Wer lebt,stört" , herausgegeben von Peter von Becker, Typographiken von Traute Langner-Geißler, GaragenDruck, Dezember 2005.

Zum 80. Geburtstag Tanked Dorsts am 19.12.2005


Dieses störende Dings, das lebt © 2006 Elfriede Jelinek

 

zur Startseite von www.elfriedejelinek.com