Keiner weiß mehr, keiner weiß es mehr

(zu Martin Leidenfrost: „Die Tote im Fluß. Der ungeklärte Fall Denisa Š.“)

 

Der größte Augenblick der Rührung beim Lesen, wenn nicht einmal der Moment einer rauschhaften Freude zum Jahreswechsel gelingt: im slowakischen Roma-Dorf. Ein Auto, aber kein Benzin. Keine Tankstelle. Das Auto dann krepiert. Das neue Jahr beginnt. Auf einem Erdhaufen zündet ein Zigeuner winzige Raketen, „ein klägliches Feuerwerk, Rohrkrepierer fast alle.“ Da kommen mir die Tränen, ausgerechnet da. Die Menschen werden verausgabt, sie verglühen, ausgebrannt, noch bevor sie – außer durch Branntwein – brennen konnten, und müssen sich auch noch selber verausgaben. Sie können sich aber nichts für sich kaufen. Sie dienen den Reichen „im Westen“ (der gar kein Westen ist, zumindest von dort aus gesehen, aber was von dort aus gesehen wird, das zählt sowieso nicht. Es genügt zu wissen, daß die dort nicht zu uns kommen und ganz gewiß nicht bleiben sollen, außer und natürlich nur solange es dauert, um unsere Scheiße wegzuputzen, in jedem Sinn des Wortes), nein, nicht als Speise, sie sollen froh sein, wenn sie selbst was zu essen und ein bissel ein Geld für ihre Knochenarbeit kriegen.  Die Obszönität, die Verborgenheit der weiblichen Arbeit, zu pflegen, zu betreuen, zu erhalten, taucht in keinem BIP auf, erst recht nicht, wenn Fremde diese Arbeit, natürlich „schwarz“, machen. Wir vertrauen ihnen unsere Ausgemusterten an, die Uralten, Hilflosen, Kranken. Und dafür werfen sich diese fremden Frauen auf den Arbeitsmarkt, doch in Wirklichkeit werden sie als unser Spielgeld da hingeworfen, dessen Wert kein realer ist, sondern der, den wir selber auf die Plastikmünzen draufgeschrieben haben, Falschgeld also, von Anfang an, vor uns hingeschmissen, damit sie sich in ihrer billigeren Heimat einmal etwas wirklich leisten können, bescheidene Ziele erreichen, dieselben wie hier: ein kleines Haus mit Garten vielleicht, einen schönen Urlaub.

Aber die Menschen sind nicht gleich, und diese menschlichen Jetons, die uns hier hingeschleudert werden: Ihr Einsatz ist, mit ganzem Einsatz, im Turnus mit einer zweiten Frau zusammen, zu pflegen, so ist das üblich, den greisen Herrn Primar zum Beispiel, in Oberösterreich, das nicht oberhalb Österreichs liegt, sondern  selbstverständlich mittendrin; auf einem dieser vielen Spieltische wird immer ein Rad gedreht, und die slowakischen Pflegerinnen werden verbraucht für verbrauchte, hilfsbedürftige Menschen unter uns, einer verbraucht für den andren, der andre verbraucht von und für sich selber, diese Frauen haben keinen Wert an und für sich, sondern nur den, den sie für uns haben. Diese Münzen sind nur an unseren Kassen einzulösen. Die Menschen sind also nicht gleich, sie sind bloß uns gleich. Nur die sind wie wir, die einmal wir auch wirklich waren, wie der Herr Primar, Denisas Arbeitgeber. Die andren sind wir nicht, die Arbeitsmaschinen, auch wenn sie zufällig studiert haben und Frau Magister sind (wie Denisa zum Beispiel). Immer zwei und zwei nehmen wir uns, die sich in der billigen Pflege abwechseln. Spielmünzen Europas sind sie, für den Herrn Primar wie für irgendwelche Politiker, die ja auch Angehörige haben, und keiner hat Spaß daran. Es muß aber sein. Es geht nicht anders. Aber wenn eine dieser jungen Frauen (meist sind diese Pflegerinnen ja älter, die Jungen halten es nicht aus), eine gewisse Denisa Šoltísová, den Namen müssen Sie sich nicht merken, denn es gibt sie nicht mehr (wenn es sie gegeben hat, dann nur in Bezug auf ihre segensreichen Tätigkeiten am alten Herrn Primar),  nackt und tot im Fluß gefunden wird, in dem sie schon ein paar Tage gelegen ist, mit äußeren und inneren Spuren von Gewalt am und im Leib, dann, ja, was dann? Dann erfährt man es erst, wenn über sie ein Zeitungsartikel und ein Buch geschrieben werden. Es war Mord, schreibt Ingeborg Bachmann als letzten Satz in „Malina“. Es ist immer Mord, aber Mord braucht ein Opfer und einen Täter, und beide sind sie der Polizei in Oberösterreich offenkundig ziemlich egal. Der Fall war und ist nicht aufzuklären. Wir haben uns ja so angestrengt, aber leider, manches ist eben nicht zu klären und zu erklären.

Ein Wesen, dafür vorgesehen, uns zu dienen und dadurch allein definiert (schon als Frau dazu gemacht zu dienen, als Fremde dazu vorgesehen, uns zu dienen und dann wieder möglichst geräuschlos zu verschwinden. Nicht unbedingt im Fluß, nackt, das wäre doch nicht nötig gewesen, sie hätte auch ganz normal verschwinden können, sie hätte nicht einige Tage im Wasser zu liegen brauchen, sie hätte auch gehen können, einfach weggehen, ohne als Wiedergängerin wiederzukehren bei einem Autor, der darüber schreibt, noch nach dem Tod herumzugeistern und unter uns rumzuhängen. Wo doch schon die nächste 24-Stunden-Pflegerin darauf wartet, das Glücksrad der angebrunzten Windeln in der Waschtrommel sich drehen zu lassen, in deren Dunst manche schlafen müssen, weil sie kein eigenes Zimmer im Haus bekommen). Da wartet sie also auf unsere geschätzten alten Angehörigen: eine attraktive junge Frau, die uns auch noch auf ganz andre Weise dienen könnte, und müßte man sie dazu zwingen. So ein Wesen ist mitten unter uns in Unterwäsche im winterlichen kalten Fluß ertrunken. Die oberösterreichische Polizei hat nichts herausgefunden. Auch sonst findet keiner was heraus, und nur wenige finden da was dran. Die Nachbarin hat nichts dran gefunden, daß die junge Slowakin im tiefsten Winter in Stringtanga und Hemd auf der Straße herumgerannt ist. Die sind vielleicht so. Es ist so. Die machen das bei sich zu Hause vielleicht, und vielleicht machen sie es daher auch bei uns daheim so,  gleich nebenan, in ihrem Dienstbotenleben bei uns. Die Denisa soll froh sein, daß sie beim netten Herrn Primar gelandet ist, einem der Honoratioren des Ortes. Es hätte viel schlimmer kommen können. Die brutale und gleichzeitig beiläufige Rätselhaftigkeit dieses Todes, welche nachträglich vieles an dieser jungen Pflegerin immerhin aufschreibenswert gemacht hat, wirft dieses weggeschmissene Leben (Müll wird ohnedies oft in die Flüsse gekippt, dort, wo man ihn nicht sieht) , das sich in unserer Macht befunden hat und vielleicht deshalb verfallen ist, man weiß es nicht, wieder auf uns Machthaber und unsere Provinz-Machthaberer zurück. Zu genau will es niemand wissen, nur der Autor Leidenfrost, und der erfährt zuviel, um etwas zu erfahren. Die Macht braucht nichts zu erfahren, weil sie schon alles weiß, und die andren müssen nichts wissen. Wissen ist nur angemessen, wenn es einem zugemessen wird. Die Macht hat die Möglichkeit, das Recht aufzuheben, und das Recht des Ungültigen, der, durch uns schon entwertet, indem wir ihm Wert nur in Bezug auf uns zugestehen, nicht zu uns gehört, ist damit verfallen. Diese Tote ist unserem Einfluß, und jedem andren auch, entzogen. Wir können zwar nicht gestatten, daß uns etwas weggenommen wird, aber wir können es gut aushalten, daß eine junge Frau aus unserer Mitte genommen worden ist. Menschen gibt es ja genug, vor allem „dort“, bei den anderen, und das sind dann natürlich auch andere Menschen. Nicht wie wir. Wir können über diesen Tod der Fremden einiges erfahren, aber wir können nichts wissen, weil wir nichts wissen wollen. Weil niemand etwas wissen will. Macht ist mehr als Gewalt, aber mit Gewalt geht es schon auch. Ersticken durch Ertrinken. Blutergüsse an den Unterarmen, die von mechanischer Gewalt durch eine andre Person zeugen, vermittels Greifens und Pressens der Unterarme durch Hände einer andren Person. Subkutane Blutergüsse im oberen Teil der Schenkel (ja wo kommen die denn her? Wer hat ausgerechnet dort eine mechanische Gewalt auszuüben?). Dazu Medikamente, die das Opfer, wie übereinstimmend angegeben wird, nie eingenommen hat und die zum Teil hier gar nicht erhältlich sind. So. Das Opfer ist jetzt weg. Wozu gibt es den verschwiegenen Fluß? Und Macht ist Wahrheitslosigkeit, weil jede andere Wahrheit zerstört werden muß, sobald sie sich zeigt. Aber alles andre wird natürlich auch zerstört. Sicher ist sicher. Unsicher ist unsicher. Diese slowakischen Frauen dienen dazu, unsere alten Angehörigen am Leben zu erhalten, und daher dienen sie uns auch sonst zu etwas, das wir ebenfalls bestimmen können. Denisa bekommt ihr Leben deshalb noch lang nicht zurück. Das behalten wir, nicht einmal als Pfand, denn kaufen können wir uns dafür nichts. 


Denisa Šoltísová

15.5.2009, aktualisiert am 2.6.2009

erschienen am 14.3.2009 in Die Presse (Wien)

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Keiner weiß mehr, keiner weiß es mehr © 2009 Elfriede Jelinek

 

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