Das flüchtige Jetzt

(zu Claire Felsenburgs Aufzeichnungen)

Claire Felsenburg war die Frau meines Onkels Walter, der eigentlich mein Cousin ist, aber weil er soviel älter ist als ich,  sage ich Onkel. In der Stille oder im Lärm, der Verwandte umgibt, ahnt man heimlich, daß man mit ihnen zusammenhängt, daß sie dazu aber auch noch in ihrem eigenen Zusammenhang sozusagen schwimmen, daß sie umschlossen werden von ihrer Geschichte, jeder von seiner, und die Geschichte ist oft keine schöne Stelle im Gras, die man sich aussuchen kann, um sich niederzusetzen und auszuruhen. Der Himmel wird zu Wasser, die Geschichte wird zu Luft, Luft wird zu Gas, etwas brennt, alles brennt, aber wir brennen nicht unbedingt darauf, etwas zu erfahren, sonst wüßten wir inzwischen ja viel mehr. Sonst wüßten wir es besser. Wir freuen uns aber doch, wenn ein andrer sich die Mühe macht und sich uns als Gegenstand jenes Teils der Geschichte, den wir nicht erlebt haben, anbietet. Wir wissen oft nicht, wovon wir reden sollen, aber wir wollen trotzdem etwas vom anderen erfahren,  egal was, bloß nichts  über uns, die wir uns schon zu kennen glauben. Wir können uns daher freuen, wenn das ein andrer tut: die Wahrheit sagen.  Uns fällt das schwer. Wir sind zu nah dran. Die Geschichte glotzt uns aus Bildschirmen und Bücher mit strenger Miene an, wir buchstabieren sie mühsam, aber wir verstehen sie nicht. Dafür sterben diejenigen, die sie erlebt und bis in die Gegenwart weitergetragen haben, wie ein Pfand, für das man noch etwas bekommen könnte. Gerade deshalb muß immer wieder zu uns geredet werden, über die Menschen vergangener Zeiten und ihre Wahrheit, die gleichzeitig ihr Leben war.  Und am besten ist, wenn diese Menschen selber sprechen, auch wenn sie schon im Abreisen sind. Sie sind ihrer Rede wert, und wir müssen versuchen, es auch zu sein. Wir können nur versuchen, ihrer Rede wert zu sein.

Ereignisse werden gesammelt und gebündelt wie Brennholz, doch die Geschichte ist grausam und wirft das Holz weg und nimmt allzu oft den Sammler mit, um ihn selbst zu verheizen. Wie kann jemand glauben, er sei Gegenstand der Geschichte und könne sie sogar mitbestimmen, wenigstens ein bißchen? Da er doch bestenfalls Gegenstand seiner selbst und seiner eigenen Geschichte ist.  Die vielen sogenannten Lebensbeichten der Berühmten, die uns umgeben und beinahe ersticken, die wollen alle hinaus ins Freie, wo wir schon ausgerechnet auf sie gewartet haben. In diesem Geschriebenen von Claire Felsenburg aber lesen wir, daß die Wahrheit von Menschen nicht aus dem Fernsehen und den bunten Blättern kommt, sondern aus der Zeitlichkeit des Einzelnen, und wäre er noch so klein und unbedeutend,  verlassen von sich selbst und an die Hand genommen vom Schrecken der Geschehnisse, entmündigt,  zu einer Art Geschichtslosigkeit verurteilt, da der Einzelne ja nichts ändern kann. Wirklich, der Einzelne wäre dann geschichtslos? Glaubt er deshalb so leicht, was ihm über andre gesagt wird? Liegt die eigentliche Wahrheit schon lange vor der Geschichte und treibt diese vor sich her wie eine wütende Gänseliesel? Über diese vergangenen Zeiten, als die Menschen noch unschuldig waren, das selber noch glauben durften und nichts als schleissige Bezüge waren, die, bis heute immer nur schlecht gewaschen, in Fetzen, die kaum die Blöße decken, über den Leben hängen, von den Leben herunterbaumeln wie von einer unter all dem Gewicht  durchhängenden Wäscheleine, über die soll man sprechen? Und wenn ja, was will man dadurch begreifen? Wollte Claire Felsenburg etwas an uns weitergeben, damit wir es weitersagen, und zwar gerade damit es nicht mehr vorkommen möge? Was sie auch wollte, das kommt jetzt alles bei uns an, aber Claire erlebt es nicht mehr. Sie ist gestorben. Sie ist nicht mehr hier. Ihr Leben hat sich entschieden, aber vorher hat sie selbst noch entschieden, daß man ihr Leben irgendwie begreifen sollte, indem man das von anderen begriffe. Wenn man sie gefragt hat, warum sie das alles niedergeschrieben habe, hat sie geantwortet, daß sie damit ihrer Mutter, die von den Nazis im KZ umgebracht worden ist,  und ihrer Familie, vor allem ihrer jüngsten Schwester Lotte, die das KZ überlebt hat, was soll das heißen: überlebt? Man kann es im Grunde nicht überleben,  und ich darf so etwas, das jeder Beschreibung spottet, gar nicht einfach so hierhin schreiben, also Claire hat dann gesagt, sie wollte für ihre überlebende Familie ihre Kindheit und Jugend aufschreiben und damit ihrer Mutter, ihrer Familie, eine Art Denkmal setzen. Keinesfalls sich selbst. Auf keinen Fall. So und so war es halt.  Es war doch auch immer wieder sehr schön und kameradschaftlich mit den anderen Kindern, das Schlittern über die gefrorenen Pfützen im Winter, denn Eislaufplatz und Eislaufschuhe waren natürlich außer Reichweite, wie das meiste, für das man bezahlen mußte. Und indem Claire über sich und ihre Familie geschrieben hat,  schloß sie sich nicht aus, sondern an. Auch wenn sie nur ganz nebenbei über das Kind schreibt, das sie Clara nennt. Die Familie ist für sie eben ihr schöner Bezug, aber diese Familie konnte sich schon damals, als es geschah, daß ihr Leben verfallen war, nicht darunter verstecken. Die Geschichte hat sie eingeholt, wie sie das immer tut, sie ist vergangen und doch ist sie immer schneller als wir, und es beginnt mit jedem Tag die Verrechnung wieder neu: Was haben wir eingezahlt, was bekommen wir zurück, haben wir Zinsen zu kriegen oder sind die auch schon aufgezehrt und wir müssen uns jetzt selbst verteilen? Kann man diese Endabrechnung der Vergangenheit über die Gegenwart stülpen, um zu erfahren, wie wir aus dieser Gegenwart wenigstens einen etwas besseren Profit schlagen können?  Nicht zuviel verlieren? Wie können wir von uns Sicherheitskopien machen, wenn wir uns schon selbst nicht retten können? Wie können wir uns planbar machen, wie Maschinen, damit etwas nicht wieder passiert? Die unabsehbare Zukunft wird nicht aufgedeckt,  indem wir versuchen, die Vergangenheit aus der Schilderung von Menschen, die sie erlebt haben, zu verstehen, wir sind ja  keine Denkmäler,  und wir verdienen es meist auch nicht, welche zu werden.  Aber Claire Felsenburg hat hier trotzdem ein Denkmal hingestellt. Sie ist dem flüchtigen Jetzt nachgerannt, hat es berührt, festgehalten, als es wegrennen wollte, und das Jetzt wurde das Vergangene,  das wird es ja immer, aber sie, der Flüchtling aus dem Osten, hat dieses Flüchtige, das schon vorbei ist, festgehalten, indem sie es markiert hat, Schwarz auf Weiß, gleichzeitig mit sich selbst geworfen in eine eigene Weite hinein, Geschichte hinter, Geschichte vor ihr, alles mit, genau: eben diesen bunten Bezügen, die sie so anschaulich beschreibt, Muster um Muster, notdürftig verhüllt, doch, egal wie es drunter aussieht: das ist es schon!  Und das war es. Verwüstet, kaputt, aber immer noch da, und die Geschwister sind auch alle noch da, am Leben, die konnten sich hinter all der Verwüstung davonstehlen mitsamt ihren Leben. Das macht die Verwüstungen des vergangenen Jahrhunderts nicht realer, es macht sie auch nicht täuschender, aber diese Leben sind jedenfalls gerettet, und das hat Claire immer so sehr gefreut, daß sie alle gerettet waren, außer der Mutter, das hat sie so gefreut, daß sie sie noch einmal und immer wieder einfangen mußte, sozusagen im Sicherheitsnetz, gerade weil diese Leben ja schon gerettet waren, in ihrem Weglaufen vor der Geschichte, die sie doch überhaupt erst zum Laufen gebracht hatte, die Geschwister Sonntag und Topf. Sonst wären sie jetzt auch längst alle tot. Nur die Mutter konnte nicht weg, und um die Mutter geht es, die Mutter, die umgebracht worden ist. 

Alles, was ich hier über dieses Geschriebene sagen könnte, kann man natürlich besser erfahren, indem man es liest. Was soll ich also sagen?  Es bläst sich nicht auf, dieses Geschriebene, es fährt nicht wie ein Sturm in diese so sorgsam beschriebenen Überzüge und bläht sie auf ihrer Leine, damit man sie schon von weitem sehen kann, wenn man daherwandert und dann weitergeht, nach einem Blick, ob sie diesmal endlich schön sauber geworden sind. Es ist seltsam, daß Menschen, die soviel durchgemacht haben, nichts aufrechnen, nein, aufrechnen tut Claire Felsenburg wirklich nicht, obwohl sie so fleißig war in der Sekretärinnenschule, als erste der Kinder in der armen, vor den Pogromen geflohenen Familie etwas verdienen konnte, die sich da tapfer von den improvisierten Betten in dem einen Quartier zu den improvisierten Betten im nächsten hangelt; die Betten verschwinden tagsüber, um abends wiederzukommen, die Kinder lagen buchstäblich zwischen den Stühlen, und wir, die wir zwischen den Stühlen sitzen, seit die Vergangenheit vorbei ist, wir sie aber nicht gut genug angeschaut haben, und jetzt können unsere Sitzgelegenheiten jederzeit unter uns zusammenbrechen, denn eine Gelegenheit ist etwas flüchtiges und kommt vielleicht nicht wieder:  wo sollen wir denn nun schlafen? Im Festnetz der festen Betten?  Auf dem Ruhekissen des reinen Gewissens, wir waren ja nicht dabei? Claire jedenfalls hat nach den wandernden Betten später dann sogar eine feste Stelle bekommen,  das letzte Feste, bevor man sie endgültig vertrieben hat. Sie konnte als erste der Kinder echtes Geld verdienen, um dem Elend zu entkommen,  einem Elend, das sie trotz Übermüdung, Überanstrengung, Sorgen (einmal muß die Familie sogar in der Rossauerkaserne übernachten, als freiwillige Gefängnisgeher, weil sie delogiert worden ist) mit getragen hat und, wenn gar nichts mehr hilft, da man für sich ja nichts bekommt, die Uhr des Großvaters ins Versatzamt tragen muß (und verschweigen, daß sie gar nicht richtig geht!). Sie war ja auch die Älteste, die der Mutter immer zur Hand gehen mußte,  die der Mutter einmal das Leben gerettet hat, als die nach einer Fehlgeburt beinahe verblutet wäre,  und die in die Apotheke rennen mußte mit dem Rezept, Rot auf Weiß, damit man es auch gut sieht, vom Arzt ausgestellt: „Für die Armen", so ist es gratis. Es kostet nichts. Und dann hat sie den netten Journalisten Walter, meinen Onkelcousin kennengelernt und ihn geheiratet, und dann mußte sie auch schon weg, wie die Juden alle weg mußten,  nachdem sich so viele von ihnen so lange abgeschunden hatten, bloß um da bleiben zu dürfen. Und dann und dann und dann... Nachdem sie so gerackert hatten, um die nackte Existenz fristen zu können. Für so viele kein „und dann..." mehr. Die Zeit wird abgebrochen, die Teile werden in den Wind geschleudert. Keiner kann sie mehr aufheben.  Jeder hat seine eigene Geschichte, und jedem bleibt sie auch, selbst wenn keinem seine Gestalt bleibt.  Sie haben einen neuen Anfang gewagt, ein Kind, ein Sohn der Familie, stirbt gleich nach den ersten paar Nächten in Wien,  in der „Nacht der schönen neuen Betten", die sich die Familie gerade besorgen konnte,  es ist mit der Freude über die neuen Betten gestorben, das Kind, und das waren auch schon seine letzten Worte. Die schönen neuen Betten, in denen die nackte Existenz erst einmal gerettet ist, aber wofür? Daß die ewig Unverfrorenen sie für verfallen erklären, obwohl soviel geschuftet worden ist, daß man wenigstens nicht mehr hungern und frieren mußte?

Claires Worte sind nicht die letzten, und sie werden vielleicht nicht einmal die ersten sein, nachdem wir durch die Geschichte des Todes hindurchgegangen sind, für den auch diese Familie vorgesehen war, für eine Gegenwart nicht des Seins, sondern des Nichtseins, wo niemand sich selbst sichern oder für sich auch nur vorsorgen konnte. Und alles, was man getan hat, war wie nicht getan und für nichts.  Da ist dieses kleine Mädchen, die Älteste in einer großen Familie, eine Zeitgenossin der Vergangenheit, über die wir vielleicht aus Interesse oder Sensationslust (aber Sensationen werden hier garantiert nicht geboten!) oder Neugier oder überhaupt Gier etwas erfahren wollen (oder auch nicht), da kommt die kleine Claire, die sich in ihren Erinnerungen Clara nennt, damit man sie nicht noch besser erkennen kann, aber natürlich, sie ist es, da ist sie ja!, sie spricht ja von sich in der dritten Person, denn die Hauptperson ist die Mutter, und diese Claire spricht nicht über Vorgänge, deren Gegenstand sie ist, und sie spricht noch weniger über Vorgänge, deren handelndes Subjekt sie ist, und sie ist auch nicht Motor ihres und ihrer Familie Schicksals, ich weiß nicht, was sie ist, aber eins ist sicher:  sie ist Teil ihrer Familie, eine von ihnen, und sie kann nichts gleichgültig betrachten, was sie sieht, diese vielen armen Versuche, ein armes Leben abzusichern, auf einen grünen Zweig zu kommen, und wäre es, indem man eine Suppenküche für Kriegsflüchtlinge des Ersten Weltkriegs betreibt. Dieses Gestrample, das arme Menschen immer wieder leisten müssen, um überhaupt ihr nacktes Dasein fristen zu können, und das sie, ob bewußt oder bewußtlos, ahnungsvoll oder ahnungslos, ob das jetzt vielleicht nur Wasser ist, in dem sie strampeln, um oben zu bleiben, oder ob es schon ihr eigenes Leben ist, das, indem sie noch verzweifelt strampeln, schon von Stiefeltritten zerstört wird, dieses Gehampel und Gestrample also hat die Schläge und Tritte der Nazis, unter denen es zertrampelt werden soll, nicht zum Gegenstand, sondern wie Menschen halt ihr Leben fristen, das ist schon schwer genug, auch ohne daß ihnen jemand diese Frist verkürzt. Und so werden diese kleinen Alltagsleben, die eine Verbindung zum Großen nicht einmal wagen (die Verbrechen der neuen Machthaber finden, ganz am Schluß, beinahe im luftleeren Raum, fast schwerelos statt, man muß halt weg von denen, mit denen man eben noch freundschaftlich gelebt hat und aufgewachsen ist), sondern dem Großen nur noch entfliehen können, so werden diese Leben also nicht zum Zweck von Zeitläuften, sondern sie machen sie,  die Zeit, sie verfertigen sie, und  sie entziehen sich ein für allemal dem Einen: einfach Zweck von irgendetwas zu sein. Sie werfen sich los wie eine Angel, und sie holen sich ein, und sie sind gerettet. Sie sind Geschichte. Sie sind das Gewesene, und sie sind zum Glück immer noch da, alle, außer Claire und ihrer Mutter. Die sind nicht mehr da.

 

 

Vorwort zu Claire Felsenburgs Erinnerungen "Flüchtlingskinder"

 

 

 

16.12.2002

siehe auch: Zwischenwelt Nr. 4 (Jänner 2012) Literatur/Widerstand/Exil, s. 10ff (Theodor Kramer Gesellschaft)

 


Das flüchtige Jetzt © 2002 Elfriede Jelinek

 

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