Klassifizieren

zu Frederic Brenner

Die Menschen klassifizieren zu wollen, egal nach welchen Kriterien, sie also in irgendwelche Wahnsysteme (Rassen, die abgeblich "rein" zu erhalten wären) einzuordnen, bedeutet, totale Kontrolle über das Werden anzustreben. Man will vollständigen Zugriff auf das Künftige, das noch nicht Seiende. Das ist so, als wollte man sich im Nichts anhalten. Oder Schlamm zu Beton festtreten. Aber Österreich hat sich noch lange nach den Zeiten der sogenannten Rassengesetze an solche Kategorisierungen gehalten, es hat sie zumindest für wert befunden, der Bevölkerung (vielleicht um sie in ihrer vermeintlich höheren kulturellen und geistigen Leistungsfähigkeit gegenüber "Minderwertigeren" zu erhalten? Oder etwa nach dem Motto: So klein das Land, so hochwertig die Menschen?) zu suggerieren, daß es eine wissenschaftliche Begründung für rassische Differenzen angeblich gebe, und so ist der Rassensaal im Naturhistorischen Museum in Wien erst vor wenigen Jahren endgültig geschlossen worden.

Archiv Frederic Brenner

Dazu kann man gar nicht erst anfangen etwas zu sagen, weil man alles dazu sagen muß, was gesagt werden kann, und ich kann es nicht. Auf der einen Seite sehe ich Menschen, zu Plastiken gefroren, verewigt, scheinbar unverletzlich, auf der anderen Seite schaut ein Mann mit Brille mich an, vielleicht etwas spöttisch, aber das lese ich in seinen Blick schon hinein. In die Plastiken kann und will ich nichts hineinlesen, weil zuviel in sie hineingeschrieben wurde, und alles waren Lügen, was da aufgeschrieben ist. Diese Menschen, Vorbilder von Plastiken, waren wahr, aber alles was aus ihnen herausgelesen wurde, waren Lügen. Es hat ein Weg in sie hineingeführt, und man hat den Weg nicht benutzt, um die Wahrheit dieser Leute zu erforschen, sondern um ihr Sein zu bestimmen (als ob das ginge!). Das Sein hat sich an sie geklammert, aber dann mußte es einmal loslassen, da konnten sie sich an ihr Sein klammern, soviel sie wollten. Man hat nicht bedacht, daß die Menschen sind was sie werden. Das Werden wurde ausradiert und damit auch das, was in sie eingeschrieben war und herausgelesen werden sollte, und so steht hier, was man von ihnen zu halten hat, so stehen ihre hohlen Abgüsse hier, aber sie sind fort, diese Menschen. Nicht weil sie damit schon ausgelöscht worden wären, sondern weil, bevor diese Auslöschung tatsächlich stattfinden konnte (man kann so etwas eigentlich nicht hinschreiben, nicht einmal hierhin) eine Art Ausrinnen passiert ist. Je mehr man in diese Menschen hineininterpretiert hat (diese sogenannten rassischen "Merkmale" und "Eigenheiten" und Typisierungen), umso mehr sind sie ausgeronnen: Wesen, die wesenlos wurden. Aus dem Sein dieser Leute ist nicht ein Werden geworden, sondern ein Entgegengesetztes dazu, ein Nichtwerden (und daher: Vernichtetwerden Dürfen), damit ist auch ihr Bestehen, obwohl sie so unzerstörbar erscheinen, diese Moulagen oder Plastiken oder was sie eben sind, das Gefährdetste. Das Werden, das die Menschen ausmacht, und das sie meist selber gestalten, zumindest gestalten wollen (solange ihnen das keiner aus der Hand nimmt, haben sie es sozusagen in der Hand, was aus ihnen wird), tritt ans Licht, wird vor Publikum ausgestellt, scheint wetterfest und wasserabstoßend und dauerhaft, ist anwesend, aber gleichzeitig suggeriert es schon das Angetastetwerdenkönnen, das Zerstörtwerdenkönnen, das zu Abfall Werden, weil das, was eben ein ständiges Werden ist, wie ein für allemal substanzialisiert und klassifiziert wurde. Das Werden wird verspottet und verleugnet, indem das Sein als etwas, das dauerhaft still steht (und Opfer werden kann), dargestellt wird. Der Mensch, er heißt Peter Menasse und lebt zum Glück, behält daneben, obwohl er für das Foto still hällt ("still" heißt das Gefrorenwerden als Fotografie im Englischen), sein Sein bei sich, man kann auch sagen sein Geheimnis, er bezieht sich selbst mit ein, ist aber schon wo anders, wenn er den Bezug um sich herum anbringen möchte, ein Heft, das einen Umschlag erhält, nicht bloß damit es sauber bleibt vor den schmutzigen Händen des Lebens, die es antasten könnten, sondern damit es zusammengehalten wird zu einer Einheit, die das Eine der Existenz Peter Menasses mit dem Anderen zusammenbringt, egal was er im Leben schon zusammengebracht, geleistet hat. Der Umschlag ist ein vorläufiger, das Endergebnis kennt keiner, weil keiner es kennen kann und keiner irgendetwas oder irgendjemanden ausschließen kann.

 

Installation, '96

4.9.2001


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