Schreiben müssen

(in memoriam Otto Breicha)

Otto Breicha ist gestorben. Ohne ihn wäre ich vielleicht, möglicherweise, ich weiß es ja nicht, keine Schriftstellerin geworden. Er war damals (1967) Leiter der österr. Gesellschaft für Literatur, und ich hatte ihm einen kleinen Packen Gedichte geschickt, noch total orientierungslos herumtaumelnd in den Möglichkeiten der Sprache, na, immerhin hatte ich expressionistische Lyrik gelesen und versucht, sie nachzuahmen, vor allem August Stramm, das hat mir der Breicha auch gleich nachgewiesen, mit ironisch-amüsiertem Blick über den Brillenrand, aber außer Stramm, Ehrenstein und der Lasker-Schüler muß er wohl noch etwas anderes in meinen armseligen Gedichten gesehen haben (etwas, das ich heute in ihnen nicht sehe, ehrlich gesagt, außer Nachahmungen sehe ich überhaupt nichts in ihnen), in dieser ungenauen Terminologie, die ich benutzt habe, hat er irgendwas gesehen, keine Ahnung was. Ich wußte damals ja nur (und das ist nicht weniger als ich heute weiß), ich muß etwas sagen und zwar anders als es alle anderen sagen, und ich darf es nur so sagen, wie es andere Dichter auch schon gesagt haben, nämlich: anders. Oder so ähnlich und doch anders. In diesem schmalen Spalt zwischen Ähnlichkeit und Nichtähnlichkeit mit etwas, das immer nur Selbstähnlichkeit ist, hat er etwas in mir entdeckt und, immer mit dieser leisen (Selbst-)Ironie, sehr fein ausgefädelt, wie einen Faden, der zu kurz ist, um noch etwas damit zu nähen, man muß eben: neu einfädeln, und das kann auch beim Slalom mit einer Torstange passieren, nein, er hat mich nicht aufgeblattelt, er hat mir den zu kurzen Faden vorsichtig herausgezogen, damit ich neu einfädeln sollte und ein andres, neues Werkstück bearbeiten, und bearbeiten, das heißt: herstellen. Das Bearbeiten aufgeben und was Neues Herstellen, das hat er von mir verlangt. Er hat gesagt, ich sei irgendwie begabt fürs Schreiben, und ich bin danach sehr erhoben und glücklich nach Hause gegangen, allein dieses Glück, daß vielleicht etwas rausschaut unter dem neuen Zierkissen, das ich da besticken würde, in Handarbeit, weitere sollten folgen, das Eigentliche, was auch immer, das hat mich schon sehr froh gemacht. Vielleicht würde ich es einmal herstellen können. Allein die Aussicht darauf! Daß ich imstande sein könnte, vielleicht sogar würde, einen eigenen Gebrauch von der Sprache zu machen, die Wirklichkeit aus der Wirklichkeit herauszuzerren, auch wenn sie nicht will und schreit und sich festklammert, denn sie ist es ja gewöhnt, auf einer Müllhalde zu leben, sie liebt es geradezu, nirgendwo sonst würde sie leben wollen, und aus diesem Trümmerhaufen darf sich dann die Wirklichkeit durchaus auch etwas mitnehmen , sie darf sich eine Scheibe davon abschneiden,  sich an den abgenagten Hühnerknochen, zerknüllten Papierln, zusammengepreßten Milchpackungen und eingewickelten Kaugummis satt essen, ohne je satt zu werden, Kaugummikugeln, tausendmal gekaut, ausgelutscht, ausgespuckt, in denen das Grau oder das Grauen wohnt, je nachdem, wie man es sieht, und man darf es sehen wie man will, keiner kann einem da was dreinreden, ja,das hat mir der Dr. Breicha ungefähr so erklärt, er hat mir aber nicht gesagt, wie man den Anfang eines Satzes wiederfindet, wenn man ihn einmal verloren habe, ich gehe also zurück, wie habe ich angefangen und warum? Also ja, daß ich imstande sein könnte, einen eigenen Gebrauch von der Sprache zu machen, die überall nur so herumliegt, nein, kein Relativsatz mehr, aus und Schluß, daß ich irgendwo eine Art wahrer Wirklichkeit entdecken und hinschreiben könnte, nein, nichts neu erfinden, aber etwas in diesem Dreckhaufen Sprache finden, das man noch für irgendwas verwenden, verwerten könnte, daß sich in der Sprache selbst schon ihr Wesen und daher alles, was ist, enthüllen könnte, mit meiner Aufsteh- und Gehhilfe, daß da überhaupt etwas verborgen sein könnte, obwohl es die ganze Zeit ohnehin da ist und da war, das habe ich vom Dr. Breicha also erklärt bekommen, und das war zufällig auch gleich eine Warheit, ganz richtig: Warheit, aber eine die auch eine Seinheit sein wird, wie praktisch, auch eine von den lieben Wahrheiten, oder war es etwa eine andre?, die wahrer war als alles, was irgendjemand je hätte erfinden können, wenn er die Sprache wie ein vollkommen unbekanntes Werkzeug, von dem er nicht weiß, wozu es dient, trotzdem zu gebrauchen versuchte. Dann funktioniert sie nicht, und wenn man sie trotzdem benutzt, hat der Dr. Breicha so oder so ähnlich gesagt, wenn man nicht weiß, wofür sie gut ist, sie aber dennoch benutzt, dann ist sie ganz hin. Denn die arme Sprache ist wegen Mißbrauchs, sexuellem und anderem, egal welchem, und wegen mangelnden Erfolgs, wegen fehlendem Fortgangs, eh schon seit langem im Spital, und dort gehe ich sie halt ab und zu besuchen. Der Herr Dr. Breicha hat mir das vor fast 40 Jahren aufgetragen, und ich gehe immer noch. Blumen bring ich ihr schon lang keine mehr mit. Weil sie mich jedes Mal so sekkiert. Kaum bin ich bei ihr, sagt sie mir schon, ich soll aber auch ganz bestimmt wiederkommen. Sie kann mich gar nicht richtig genießen und ich sie auch nicht. Und dabei bin ich noch kaum in ihrem Krankenzimmer drinnen.

Er hat gesagt, der liebe Otto Breicha hat gesagt, man solle Willkür walten lassen, wenn man schreibt (wieder der Blick über die Brillengläser hinweg, spöttisch-belustigt, in den falsch möblierten Räumen der Literaturgesellschaft, immer mit dem Grundton: Machen Sie weiter, mach weiter, Mädel - so hat mich auch der H.C. Artmann immer genannt-, mach weiter, Mädel, es wird sich vielleicht lohnen, und wenn nicht, wenn es nicht gleich die Absolutheit der Absolutheit ist, wenn du nicht bis zu dem-was-ist, vordringen kannst, machts auch nix, dann ist halt was andres, du mach jedenfalls weiter, egal wohin du damit kommst.) Den Gebrauch von Instrumenten war ich seit längerem  gewöhnt, jetzt war eben ein neues Instrument dazugekommen: die Sprache, die alles öffnet und alles schließt und sich allem verschließt und selber alles ist. Man braucht keinen Durchblick dafür, wohin sollte der auch gehen, was sollte der auch durchdringen, der Blick ist ja immer, zu scheu zum Aufschauen zu den Bergen, auf die Erde gerichtet, wo sie herumliegt, die Sprache, der Dreck, der Müll, der Tod, und von dort heben Sie sie auf, Mädel. Suchen Sie sich auf diesem rauchenden stinkenden Trümmerhaufen zwei Sachen heraus, die zusammenpassen, nein, nicht Sachen, die zu Ihnen passen, wer interessiert sich schon für Sie, nein, Sachen die untereinander zusammenpassen, denn wozu wäre ein Instrument wie die Sprache schon gut, wenn man nur den Hauch des Ansatzes hörte, den Sie da ins Mundstück hineinblasen, wenn man nur sähe, was vorne, nicht hinten herauskommt? Was überfließt und daher überflüssig ist? Das lassen Sie weg! Wenn Sie nur eine Terminologie benutzen, die es schon gibt, und die daher jeder zusammenbringt, weil er nicht weiß, was er aus diesem Schutthaufen an Dingen zusammenführen, zusammenbringen kann und was nicht, dann liegen Sie schief, und Liegen sollten Sie schon gar nicht. Wer braucht es, daß er sich ausruhen muß, wenn es ihn doch fortreissen kann? Wenn er die Wahl hat, sich selbst aus sich herauszureißen und endlich: fort! Gehen Sie weg von sich, da könnte was explodieren und Sie werden getroffen! Treffen Sie lieber andre, nein, betreffen Sie lieber andere und anderes! Was liegt, das pickt. Was paßt, das paßt. Paßt, aus, gemma, der, die Nächste bitte. Und es ist egal, wer der Nächste ist, er ist sicher nicht unser lieber Nächster, das steht fest, aber wenn man ihn für die Sprache verwenden kann, umwandeln kann, dann bitte, nehmen Sie ihn nur, er gehört niemandem. Das muß man erst mal kapieren, und Otto Breicha hat mich dazu gebracht, daß alles da ist und man sich nehmen kann, was man will. Entwickeln Sie Geschick, wenn Sie schreiben wollen, so hat er es vielleicht gemeint, entwickeln Sie Geschick, wenn Sie das Geschick eines Menschen darstellen wollen, zumindest das Geschick, alles, wozu Sie fähig sind, verdient der nächste, der drankommt, das Geschick ist das Gewächs, das wir mit Denken begießen, und dann kommt eine Sprache heraus, deine, meine unsre? Nein, eher doch meine. Das hat mir Otto Breicha beigebracht, und damit hat er mir natürlich eine schreckliche Verletzung beigebracht, die nie geheilt ist, weil ich seither immer nur nach dem einen oder dem andren (ja, aber welchen?) Wort suchen muß, wie unter Zwang, dieses Wort, das, als letztes, das Licht ausdrehen muß, weil es eben das einzige, das letzte, das allein mögliche ist. Der Letzte muß das Licht ausdrehn, damit es wirklich hell wird. Und so ist es jetzt auch dem Herrn Dr. Breicha passiert. Und weil er immer in meiner absolut nötigen Helle gewesen ist, obwohl ich ihn die letzten Jahre kaum je gesehen habe, hole ich ihn jetzt hervor, weil ich ihn, in dieser Helligkeit, natürlich sofort finde, er war ja immer da und wird immer da sein. Einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben, ja, was heißt das schon. Er selber hätte natürlich gelacht darüber. Was heißt das schon? Versuchen Sie es besser zu sagen. Aber besser kann ich es halt nicht. Das ist eine einseitige Ansicht, mal schauen, ob die Rückseite auch beschrieben ist und ob ich was davon nehmen kann. Es ist ja für einen guten Zweck. Leben Sie wohl, Dr. Breicha, grad weil Sie nicht mehr leben. Daß man das sagen darf, haben immerhin Sie mir beigebracht! Ich habe immer gesagt: Sie sind an allem schuld. Und er hat immer gelacht, wenn ich das gesagt habe. Er hat gesagt, er ist gern schuld. Jetzt nimmt ihm das niemand mehr ab, jetzt ist er bald unter Erde begraben, aus dem Reich der Gestalten verschwunden, viele Jahre, nachdem er mich ins Reich des Gestaltens gestoßen hat. Dort bin ich jetzt. Er ist wo anders. Wie leblose Fetzen, die einmal gelebt haben, liegt das in meinem Bewußtsein, und dort bleibt es auch.

29.12.2003

Der Text erschien am 30.12.2003 in der "Presse"
Bild aus: "Der Standard"

 


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