Hören Sie zu!

Das Hören kommt einem über die Lippen wie ein verbotenes Wort, aber man kann es nicht erschrocken zurücknehmen. Es liegt auf dem Tisch und wird geschnitten. Es blutet nicht. Es verschwindet nicht. Es ergibt ein tadelloses Bild, aber eben ein unsichtbares, und zwar für jeden, auch für den, der sehen kann. Für den, der hören kann, macht das Bild eine höfliche Anfrage, ob es hereinkommen dürfe. Da ist es also, es ist aber in anderer Form als der Bildform aufgetreten und hat eine andre Form von Bild erzeugt, ein Bild, von dem man, wie gesagt, jetzt erst erkennt, daß man es schon mal gesehen hat, auch wenn man gar nicht sehen kann. Hören Sie zu! Das Gesprochene geht von mir aus, es geht aus mir heraus und in Sie hinein, und es ist eben auch: ein Bild, aber eins, das man gar nicht zu sehen braucht. Wer nicht sehen kann, muß hören.  Das Hören kann so verführerisch werden wie Bilder es je schon vorher sein können, bevor sie überhaupt da sind. Aber das Hören kann das doch auch! Nein, Sie müssen nicht denken, bevor Sie sprechen, aber Sie müssen denken, wenn Sie zuhören. Das Hören kann interessante Pornographie sein: das Verborgene und gleichzeitig das Verbotene. Noch verbotener ist zum Beispiel nur das Denken. Natürlich! Man braucht ja auch kein Werkzeug aus dem Baumarkt dazu. Und dann wird das Denken irgendwann einmal wieder anständig, weil man es nicht im Verborgenen belassen hat. Weil man es als die neue Freundin oder der neuen Freundin vorgeführt hat. Es wird zum Angreifen hergerichtet, obwohl man es nur hören, nicht sehen kann. Greifen Sie zu! Nein, nicht hingreifen! Zugreifen! Hören ist Denken, und Denken kann man sowieso alles. Am liebsten denkt man, was man nicht denken darf. Finger weg! Was ist dagegen das Sehen! Nichts! Aber das Denken kommt nicht von selber. Ich setze mich dazu auf den Boden, reisse einen Grashalm aus und locke damit die Grille aus dem Boden heraus, ich kitzle sie hervor. Sie ist eine von vielen, so wie jeder Faden, der das Bewußtsein durchkreuzt und damit gleichzeitig durchstreicht, etwas ist, das ich aus mir hervorkitzle. Gleichrangig steht es dann da in all seiner Verlassenheit. So wird es meine Verlassenschaft. Das Denken und das Hören, die beide ein Bild ergeben, das man nicht zu sehen braucht. Beide, das Denken wie das Hören, werden immer schneller neu, je öfter sie eingesetzt werden, nachdem mein Grashalm sie herausgeholt hat aus dem Boden, der vorher das Wasser und die Nährstoffe eingesaugt hat, bis er ganz vollgesoffen war. Oben quellen dann die Pflanzen heraus. Ich denke nach oder ich tue das, was ich für Denken halte, und die Dinge erscheinen, in der Bildform, die ich mir ausgedacht habe und die man nicht sehen muß, weil man sie ohnedies nicht sehen könnte. Das Denken wechselt eilig die Kleider, damit man in sich etwas Abwechslung bekommt, natürlich reine Illusion!, und jede dieser Abwechslungen bekommt Dauer, durch das Denken. Das Denken ist nur etwas von vielen. Eins von vielen. Das Bild ist unbedingt und will auch immer unbedingt, daß wir hinschauen. Das Denken, das Hören kann gar nichts unbedingt wollen, denn wenn man etwas hört oder denkt, dann kann man ja gar nicht anders. Es ist ein unwillkürlicher Vorgang, in den ich manchmal willkürlich eingreife. Mehr als eingreifen kann ich nicht. Ich weiß aber nicht, in was ich da hineingegegriffen habe. Vielleicht ist es eklig, Scheiße, ich sehe es nicht. Und wenn ich es sehe, ist es meist zu spät. Ich höre es nur. Ich höre ein Scheinen. Wie froh bin ich, daß ich es nicht sehen muß! Es genügt mir zu wissen, daß es ein Scheinen ist. Nicht im Sinn von Erhellen, das vom Denken kommt, sondern in dem Sinn, daß es sofort zerfällt. Immerhin: es zerfällt. Es wäre entsetzlich, wenn es bliebe. Die Bilder bleiben, es ist grauenhaft, aber das Denken geht schön vorbei. Die Bilder, die aus dem Fernsehgerät oder sonst woher rasen, zerfallen nicht, sie laufen und laufen und kommen in uns an und laufen durch uns hindurch, als wären wir kein Hindernis. Die sind dauernd im Training, die blöden Bilder. Wir sind für sie eben kein Hindernis. Für garnichts sind wir ein Hindernis. Die Bilder erkennen sich selbst nicht. Dafür sollen wir uns erkennen. Aber wir müssen uns und den Bildern von uns ständig ausweichen und erkennen uns trotzdem nicht. Erkenne dich selbst in diesem Bild von dieser halb nackten Frau mit den total  geilen langen Beinen und dem Super-Arsch! Leider kann ich das nicht. Schade. So hätte ich mich gern erkannt! Macht nichts. Ich will mich der Wirklichkeit trotzdem erkenntlich zeigen, indem ich mir etwas denke, das sie und damit gleichzeitig mich verbessern könnte. Das habe ich mir so gedacht! In der Zeit, in der ich spreche, werde ich nur älter. Das Scheinen, die Scheinchen müssen im Umlauf bleiben, sonst geht gar nichts. Da denke ich lieber und bleibe zu Hause und lenke mich nicht länger mit Gegenständlichem ab. Das müßte ich dann ja sehen! Ich schließe die Augen. Ich denke, also darf ich im Verborgenen bleiben. Ich enthülle jetzt den Schein, auf dem Schein steht eine gewisser Betrag drauf. Sie können nicht lesen welcher? Sie Glückliche! Sie werden nie wissen, wieviel dieser Schein wert ist. Sie werden nicht neidisch werden. Ich habe auf diesen Zahlschein selbständig, von mir ermächtigt, die Summe eingetragen, die mir bei meiner Abrechnung mit der Wirklichkeit herausgekommen ist und die ich mir jetzt selber spenden möchte.  In diesem Kreislauf geht nichts verloren. Denken auch Sie! Denken Sie JETZT! Ich habe mir diesen Text hier ausgedacht, das können Sie auch! Sie können etwas anderes denken und sich ausdenken. Bei dieser Auswahl ist das keine Kunst, wirklich nicht. Nehmen Sie sich Zeit, die Zeit ist doch auch nur ein Strang, der in den Raum hineinragt und mit Sprache gefüllt werden kann. Die Sprache ist also der Einkaufszettel für das Scheinen, den Schein, der aus dem Supermarkt herausquillt, jetzt noch die Münze für den Wagen, damit Sie die Waren einladen können, bei Ihnen zu bleiben, der Schall kommt in den Warenkorb, der anzeigt, wieviel die Menschen für sich bekommen könnten, wenn sie sich selber was wert wären. In der Stille können Sie Schall und Denken und Rauch bekommen. Auch sie bekommen am Schluß nur zurück, was sie eingesetzt haben: einen Euro. Eine Münze. Von mir können Sie einen ganzen Text bekommen, der sich nicht gerade durch Scheinen auszeichnet, aber er ist eines der Dinge, die ich mit meinem Grashalm aus dem Boden gelockt habe, nicht mehr, nicht weniger. Gleichviel wert wie das Denken, das von Ihnen kommt, während Sie mir zuhören, beides läuft gleichzeitig ab, nebeneinander laufen sie her, das Hören und das Denken. Der Schein ist der Gutschein dafür. Für diesen Gutschein bekommen Sie einen Schein, den man nicht sieht. Nein, das ist leider kein Lottoschein. Aber dafür müssen Sie auch nichts ausfüllen. Das habe ich schon für Sie erledigt. Einer wird gewinnen. Keiner wird gewinnen.  Das macht keinem was aus. Denn der Schein aus dem Supermarkt hat getrogen, der Markt ist geschlossen und nur zur Not erleuchtet, damit Sie das Ufer sehen und in dem Scheinen nicht untergehen können. Dieses Scheinen aus der Warenwelt, das von dieser Welt herkommt und nur dazu dient, sie, diese Welt zu zeigen, die man aber ohnedies schon kennt, weil ja das Licht nie abgedreht wird, dieses Scheinen also hat sich völlig verausgabt damit, Ihnen etwas zeigen zu wollen. Es hat verabsäumt, sich selbst zu kennen, es hat immer nur hinausgeleuchtet, es hat immer nur Ihnen geleuchtet, nie sich selbst. Und jetzt leuchtet es nur noch dumm vor sich hin, damit Sie sich nirgends verstecken können um, buchstäblich: dahinter zu kommen. Dieses Scheinen gibt Ihnen keine Möglichkeit, hinter irgendwas zu kommen, denn es leuchtet jeden Winkel unerbittlich aus. Und wenn Sie nicht dahinterkommen, was Ihnen durch den hellen Schein eben unmöglich gemacht wird, dann werden Sie andauernd nur am Laufen gehalten und müssen die Gegenstände alle an sich selbst und als sie selbst erleiden. Wenn Sie nicht hören können, müssen Sie fühlen. Es hilft nichts: Sie müssen aus dem Schein wieder heraustreten, in die Dunkelheit. Die Offenheit des Supermarkts war trügerisch, er war hell, aber geschlossen. Die Waren sind da, aber derzeit können Sie sie nicht haben. Sie können aber auch bleiben, wo Sie sind und die Augen schließen. Kein Schein kann Ihnen dann noch was anhaben, dann öffnet sich etwas, und das Denken kommt herein. Das Denken ist der Grashalm, mit dem auch ich meinen armen kleinen Text aus dem Boden herauszukommen gezwungen habe, er hat sich unter der Erde kaputtgelacht, dann ist er rausgekommen, weil er nicht anders konnte. Und jetzt schrillt und sägt er hier herum, ein Heimchen, das heim will, aber nicht darf. Es muß draußen bleiben. Er ist auf der Lichtung erschienen, dieser Text, auf der Lichtung, die entstanden ist, als Sie endlich aus dem Licht getreten sind. Er geniert sich, der Text, daß er aus der Erde heraus mußte, daher sollen Sie ihn nicht anschauen. Sie können ihn auch gar nicht anschauen, weil Sie ja in der Dunkelheit nicht sehen können. Innen und außen wird die Erde plötzlich wertlos, weil sie dieses kostbare Gut hergeben mußte, das ich mir ausgedacht habe. Das, was man nur hören kann, wenn man die Augen zumacht, das, was erst die Essenz, das Wesen des Lichts ausmacht, was man erst sieht, wenn man überhaupt nichts mehr sieht, das kann man dann erkennen. Das wird dann eine riesige weite Fläche für das Denken und das Hören. Eine Fläche, größer als alle Supermärkte zusammengenommen, größer als alle Stellflächen, auf denen man abgestellt und dann vergessen werden könnte. Der Schein ist da, wenn das Licht aufgedreht ist. Der Schein aber, wenn man das Licht nicht mehr sieht, weil man die Augen geschlossen hat, der öffnet erst wirklich das Offene, das man nicht aufsperren kann, das nur von selber aufgeht, das Offene, in das der Freund kommen soll oder der schlimmste Feind, wo keine Posten stehen und zusammengerechnet werden sollen, ob man sich leisten kann, was man aus dem Regal genommen hat, ob es zuviel war, egal, denn erst wenn man nichts mehr sieht, enthüllt sich das scheue Scheinen, das sich jederzeit wieder verbergen könnte, wenn Sie die Augen öffnen, bevor sie Ihnen geöffnet werden. Es kann sich jederzeit wieder zurückziehen, aber solange Sie nur hören, ist alles offen.

 

Rede gehalten am 7.6.2004 in Berlin, anläßlich der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden für "Jackie" (Teil 4 der Prinzessinnendramen).  

13.6.2004


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