Krankheit und der moderne Mann

(zu: „Herzzeit“. Briefwechsel Ingeborg Bachmann – Paul Celan)

Es werden Menschen krank, man kann sie nicht heilen, was man auch macht, sie bleiben krank. Sie bleiben für immer unversöhnt, mit ihrer Krankheit am unversöhntesten. Was können die andren dafür? Sie können, ob sie nun dazu oder dagegen etwas unternehmen, nichts dafür, und sie können etwas dagegen haben, soviel sie wollen, daß der Kranke unheilbar krank ist, es nützt ihnen nichts, und es nützt auch dem Kranken nichts. Daß es mit der Todeskrankheit kein Auskommen gibt, daß man von ihr nicht einmal ein Auskommen beziehen kann, zeigt der Briefwechsel Ingeborg Bachmann-Paul Celan (auch und vielleicht als globaler An-die-Wand-Spieler Max Frisch, ein Meister des Fachbereichs Grounding, zu übersetzen mit: Komm mal wieder auf die Erde zurück! und Gisèle de Lestrange, Celans spätere Frau). Keiner entkommt keinem, Celan nicht der Krankheit und auch allem anderen nicht, Max Frisch entkommt mit Leichtigkeit, geradezu mit Grazie, auch wenn er (auch sich selbst) dem Ende seiner Beziehung mit Ingeborg Bachmann Noten gibt, nicht gut bestanden, aber überstanden, immerhin! Celans Krankheit war nicht zu überstehen. Sie war nicht zu übersehen, von keinem, der ihn gekannt hat, nicht von Grass, auch ein Genie der Normalität (ich weiß nicht, wie diese Genies das machen, aber ich bin kein Genie und kann mich auch nicht in eines hineinversetzen, ich war eine gute Schülerin, aber in der Schule des Lebens bin ich nicht versetzt worden, höchstens umgesetzt, in immer neue Erde, weil ich die alte nicht vertragen habe, aber die neue war noch weniger bekömmlich, aber das nur nebenbei), nicht von Andersch und Böll, den (von mir bewunderten) Normalitätsterroristen, es waren ja fast alle im Nachkriegsdeutschland Normalitätsterroristen. Das ist verständlich, die Sehnsucht nach Normalität muß ja auch eine Art Krankheit gewesen sein, das Negativ einer Krankheit, an der Celan litt, aber nicht ihr Röntgenbild, denn die inneren Organe hat man bei Paul Celan nicht gesehen. Es hat genügt zu wissen, daß da alles krank war. Der Anblick seines Inneren wäre vielleicht bekömmlicher gewesen, Grund zur Hoffnung sogar. Nichts zu sehen von einer Krankheit, was beklagt sich der Mann andauernd, es gibt doch keinen Grund, den haben wir doch längst verloren! Hofft der etwa noch, freigesprochen zu werden. Zu welchem Ende? (Bachmann, allerdings leicht abgewandelt, die Abwandlung ist von mir, sie spricht von ihrer eigenen Verwerfung, ihrem eigenen Urteil), von welchem Mund, der das Urteil spricht, mit welcher Hand, die einen hinrichtet? Die einen hinreichend hinrichtet, damit es danach endlich aus ist. „Wie ein Hund!’, sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben“, schreibt Kafka am Ende des Process’, auch ein Kranker, ein Verurteilter, der das aber gewußt hat und es zu seinem Thema gemacht hat. Die größte Ungerechtigkeit ist, wie gesagt, daß die einen krank sind und die andren nicht, daß die einen leben können und die andren nicht, auch wenn alle sterben müssen, das ist nun wieder gerecht. Aber warum muß das sein, daß einer um seine Begnadigung bettelt und weiß, daß er immer nur um die Verlängerung seiner Folter betteln kann? Der Verurteilte, Celan, auf seinem gigantischen Leichenberg, dieser auf eine ewig und lang bellende Abendglocke horchende Dichter, aber die Glocke bellt, heult, schreit nur in ihm, nicht an und für sich, nicht in dem kleinen Dorfkirchlein und nicht dort im Gebirg, wo der Jud aufsteigt, wohin, von woher, wo man ihn hat wohnen lassen, vorübergehend, egal, er gehört nicht hierher, denn der Jud und die Natur (für die er verurteilt worden ist, seine Natur), das ist zweierlei, auch heute, auch hier, aber er gehört auch nirgendwo sonst hin als in die Todesmühlen, die das schwarze Mehl mahlen, das dann wieder keiner braucht, es ist ein fruchtloses Mehl, das da aus der Knochenmühle kommt, es kommt aus keiner Feldfrucht, nein, das stimmt nicht, schwarzes Mehl und schwarze Milch der Frühe (also früh aufstehen, das wollen wir schon gar nicht, außer zum Sport, wenn wir laufen oder radeln gehen wollen, dann brauchen wir die Frühe schon, wann sollen wir das denn sonst machen?, bei einer schwarzen Milch hört sich der Spaß allerdings auf) brauchen die, die gesund bleiben oder es werden wollen, volles Korn, volle Pulle!, immer rein damit, es ist gesund! Krank sollen andre bleiben, wir nicht, wir bleiben gesund, das haben wir uns eigens vorgenommen!  Gesundheit muß man sich vornehmen, und dann nimmt sich die Gesundheit einen vor und zeigt, wie schön das ist, nicht krank zu sein. Nehmen wir uns die Kranken also ruhig einmal vor!


Diese Bitte um Folter, damit der Tod noch etwas aufgehalten wird, das Urteil, die Vollstreckung des Urteils etwas hinauszuzögern (wider besseres Wissen, denn das Wissen sagt, bald bin ich tot, aber vorher strample ich mich noch kräftig ab, schon das eine Folter, außer es findet eben auf dem Rad statt, auf das man nicht unbedingt geflochten werden muß, um zu leiden, man leidet auf dem Rad schon, wenn man kilometerlang bergauf fahren muß), diese Bitte wird nicht gehört. Sie wird von Ingeborg Bachmann geahnt, auch verstanden, weil sie das verstehen will, aber auch sie kann nichts gegen den Tod unternehmen. Sie kann versuchen, sich mit der Gesundheit, mit Max Frisch (der ist zwar manchmal krank, aber er kommt immer wieder hoch, fein!), zu verbünden, sich an die Gesundheit zu krallen, aber wenn diese Gesundheit sie verläßt, wird auch sie verfallen sein, was sie nicht weiß, aber lernen wird. Zwei Unheilbare wechseln Briefe. Die eine ahnt etwas, der andre weiß es schon, in seinem Kopf sind nur Leichen, das paßt so gar nicht in diesen Aufbruch einer Gruppe 47, einen der wichtigsten Foltervereine, man muß eingeladen werden zur Folter, es kann nicht jeder gefoltert werden, nein, dazu muß man nicht berufen sein, dazu muß man berufen erst mal werden! Diesem Ruf folgen alle. Es ist der Ruf des modernen Menschen nach Gesundheit, von der man, von uns aus, ruhig kleine Ausflüge in die Dichtung unternehmen kann, von uns aus gehts dort lang, wir sagen es Ihnen doch eh!, und dort wird Gesundheit auch angeboten, und wer darf, nimmt sie sich, nimmt zwei, Paul Celan nimmt sich keine. Für Unheilbare ist die Folter die einzige Verlängerung ihrer Leiden, das Beste, was sie bekommen können, so wie der Krebspatient die Folter der Chemo begrüßt, denn am Ende könnte Gesundheit auf ihn warten. Na, auf Sie habe ich grade noch gewartet!, sagt die Gesundheit. Aber Paul Celan weiß, daß dort etwas lauert, vor dem man vielleicht keine Angst zu haben braucht, denn dort, wo das herkommt, sind schon viele, dort ist die Mehrheit, wenn auch nicht die gesunde, der Jud steigt ins Gebirg, aber was macht er dort? Weiß er? Er ist der einzige, der was weiß, aber wenn er es sagt, wird er bloß lächerlich. Lächerlich bloß. Die Bäume verstehen ihn nicht, die Berge auch nicht, er kennt den Weg sowieso nicht, ein andrer Jud kann ihm den Weg auch nicht zeigen, da hätte er halt einen einheimischen Holzfäller oder Jäger fragen müssen, denn alle Einheimischen sind auch Jäger, er hätte gar nicht fehlgehen können, und wen fragt er, einen Jud fragt er. Ihm ist nicht zu helfen. Was weiß ein Fremder? Ein Einheimischer hätte es gewußt. So wie ein Gesunder weiß, wie man gesund ist, nein, oft weiß er es nicht, aber das macht nichts,Hauptsache gesund! Die Bachmann ahnt das. Sie arbeitet sich daran ab, noch nicht wissend, daß auch sie selber eine Kranke ist, die nicht zu heilen sein wird. Vielleicht hat Celan die verwandte Kranke in ihr gespürt? Ihre Krankheit hat sich aber erst gezeigt, als sie von der Gesundheit, vom Schweizer Kracher, verlassen worden ist, und ich meine das nicht abwertend: Schweizer Kracher. Das ist der moderne Mensch, den ich so bewundere, den ich mehr als alle anderen bewundere. Aber zu ihm gehören kann auch ich nicht. Ich würde gern, aber man hat mir oft zu verstehen gegeben: Es geht nicht. Die, bei denen es „nicht geht“, die ins Gebirg gehen können und sogar wissen, daß sie in den Bergen sind, sich aber dort nie auskennen werden, weil die Berge für sie nicht sind, die sind nichts für sie (es gab vor der universellen Hygieneaktion unter den Duschen, die keine waren, etliche jüdische Sektionen von Alpenvereinen, die gehörten nie hierher, und die wurden, wie das meiste, das die Juden hatten, aufgelöst, selbst bei Gewitter mußten die Mitglieder draußen bleiben vor der Hütte, im Regen bleiben, sich regen bringt Segen, und Arbeit macht frei!, die werden sich schon nicht auflösen in dem bißchen Wasser, die werden wir sowieso in Rauch auflösen, denn die Gesunden haben für alles eine Lösung: alle andren auflösen! Alle Rätsel auflösen. Auch die Kranken, die erst recht!, auflösen. Alles auflösen. Und ist keiner krank, dann machen wir ihn krank, und weiß einer nicht, daß er krank ist, dann sagen wir es ihm! Wir werden ihm das schon noch beibringen, daß er krank ist, weil er ist! Er mag ja nichts dafürkönnen, aber er muß weg, damit seine Krankheit, die er ist, nicht über uns und unsre gesunden Kinder komme!), und alles ist Berge, wo wir nicht hingehören, denn der Kranke gehört ins Bett, sonst steckt er noch alle andren an, die nichts dafürkönnen. Keiner hat was dafürgekonnt, nein, auch in der Gruppe 47, die ihre Urteile frei von der Leber weg sprach, nicht. Weg!, haben alle gesprochen, und keiner kannte etwas und konnte etwas dafür. Und manchmal ist ein Urteil über einen bereits Verurteilten zu fällen, das ist Overkill, Folter würde genügen, bevor er sowieso abkratzt. Die Folgen sind nicht mehr wegzudenken. Das sollen sie auch nicht, denn die Folgen der Folter folgen einem nicht. Keiner folgt keinem. Die Kranke Ingeborg Bachmann mag dem Gesunden folgen, aber gesund wird sie davon nicht. Bitte, versuchen wir es mit einem solchen Gesuch an den Gesunden, ein Gesuch, das seine eigene Beantwortung ist, an den gesunden Mörder, der einen getötet hat, an den eigenen Mörder, ach, da ist er ja schon! (gut, daß man ihn wenigstens kennt, Claire Goll war auch so eine Mörderin, aber die hat das nie interessiert, es gibt ja auch Mörder, die wirklich abgrundtief böse sind, was man sofort erkennt, vielleicht nicht jeder, aber doch viele, zumindest etliche, doch es gibt auch Mörder, die guten Glaubens handeln und guten Gewissens etwas sagen, auch wenn ihnen nichts gewiß sein kann, ist für sie alles im Gewissen, ohne daß sie ein Gewissen haben müßten, ein Kritiker ist es in diesem Fall, er sitzt im Tagesspiegel Berlin und heißt Blöcker, hab ich den jetzt richtig geschrieben?, ja, ich habe es überprüft, ich habe den Namen nie gehört, aber ich bin ja auch zu jung dafür, und auch Namen sind ja Schall, wenn man gesund ist, und Rauch, wenn man krank ist) versuchen wir also, ein Gesuch zu richten, wenigstens ein Gesuch soll gerichtet werden, an den Mörder, und wir stopfen ihm seine eigenen Worte in den Rachen zurück, und das ist ja besonders komisch, denn die Folter wird damit verlängert, die Folter wird hiermit, wie von Ihnen ausdrücklich gewünscht, allerdings mit Ausdrücken, die wir nicht verstehen, für verlängert erklärt, und dieser Folterer (für andre ist er ein Kritikerer, nicht mehr, nicht mehrere, sie kommen trotzdem immer zu mehreren, aber nehmen wir uns einen heraus, nehmen wir uns heraus, einmal einen mit Namen zu nennen. Wir kennen noch andre Mörder, freilich, freilich, ich kenne meinen Mörder auch – zufällig ebenfalls ein Schweizer, aber damit ist es schon genug, ich beeinspruche nichts, ich beanspruche einiges, bekomme aber trotzdem von den Mördern zugegeben alles, was sie zu geben haben – Celan hat seinen Mörder also gekannt und schreibt ihm jetzt, aua, das tut weh!, aber nicht dem Kritiker tut das weh, der mit diesem Brief geehrt wird und sich höchstens wundern mag, daß sein Opfer noch lebt, nur keine Sorge, Günter Blöcker, ich besteige jetzt mein hohes Roß und reite auch gegen Sie, aber das wissen Sie gar nicht, das spüren Sie nicht, wahrscheinlich sind Sie auch schon tot, aber damals haben Sie noch gelebt, andre allerdings nicht, das waren zwar viel mehr als Sie, das waren Millionen Menschen, darunter Celans Eltern, die nicht mehr gelebt haben, aber inzwischen wissen Sie vielleicht, wie es ist, tot zu sein, vielleicht leben Sie aber auch noch, von dieser Stelle aus herzliche Grüße an Sie!, Sie haben Ihre Stelle gut genützt, ich meine Ihre Stellung bei der Zeitung, das war total in Ordnung, die Gesunden sind immer total in Ordnung, deswegen sind sie ja gesund, na, vielleicht nicht deswegen, aber sie sind danke, gesund, auch wenn es ihnen einmal schlecht geht, aber das dauert nie lang. Denn sie haben eine furchtbare Macht, und die Macht gewinnt immer, wir brauchen ihre Träger nicht zu kennen, na, in diesem Fall kennen wir einen von ihnen, gut, aber da kommt ein Denken auf Sie zu, das Ihnen hunderte von Jahren vorausgeeilt war und gleichzeitig Tausende von Jahren hinterherhinkt, das arme kranke Denken, hat einen Hinkefuß, damit es nicht so schnell ist und der Kritiker es einholen kann, dieses Denken und Dichten einholen kann, wofür hätte er denn seine Tasche mitgenommen, der Kritiker?, da kommen die Bücher hinein! Damit die ersten Deutschen in eine gelichtete Stätte fallen, nein, nicht fallen, doch, gefallen sind schon etliche von ihnen, viele von ihnen, schrecklich, aber sie sind gesund geblieben beim Fallen, ja, meinetwegen auch beim Gefallen, auch beim Gefälltwerden, während die Verurteilten schon krank waren, bevor sie gefallen waren oder gefällt wurden, die Reihen fest geschlossen, nicht bloß gelichtet!, sagen wir so: Ich erkläre die Verurteilten für krank, dann ist es sicherer, daß es einen Grund gab, sie zu verurteilen. Kranke Stellen am gesunden Volkskörper, kranke Dichtung in der gesunden deutschen Nachkriegsdichtung! Die müssen weg! Sonst wird der Volkskörper auch wieder krank. Das geht nicht, wo er doch gerade erst gesund geworden ist, unter größten Mühen, das haben wir endlich hinter uns, nein, nicht wir haben uns die Mühe gemacht, diese Mühe wurde uns selbstverständlich abgenommen, warum sollen wir alles selber machen? Den Kranken wird nichts abgenommen, denen nehmen wir nicht einmal ab, was sie dichten. Die haben keine Freiheit, auch keine gegen ihre eigene Muttersprache, die Kranken haben keine Freiheit und brauchen sie auch nicht, was sollten sie mit einer Freiheit schon anfangen?, sie „agieren im Leeren“ (P.C., dem Kritiker dessen eigene Worte in den Rachen zurückstopfend, doch der merkt das gar nicht, der ist beim Zahnarzt und läßt sich einen Zahn zustopfen oder einzementieren, damit wenigstens der gesund bleibt), der Dichter, der Kranke, ist vom Kommunikationscharakter, na sowas, Charakter hat sie auch, die Sprache, hätt ich nicht gedacht, na, sie wird ihn auch brauchen!, von dem Charakter ist der Kranke nicht gehemmt und auch nicht belastet, weniger als andre belastet (der Kranke ist eher mehr belastet, aber das belastet doch einen Gesunden nicht, das kann doch einen Gesunden nicht erschüttern, keine Angst, keine Angst, Rosmarie, keine Angst, Margarete!). Leichtsinniger Autor! Wer versteht schon, daß der wirklich den Tod meint, wenn er vom Tod redet! Wer soll denn das verstehen? Der Kommunikationscharakter der Sprache sagt charaktervoll rechtzeitig, noch bevor er da steht, daß er kein Wort versteht. Recht hat er. Und dann verfugt der Kranke seine Todesfuge, kann aber die Sprache nicht bis zu dem Punkt entwickeln, „wo sie sinngebende Bedeutung übernehmen kann“. Er kombiniert Worte, der Kranke, aber wer soll sie verstehen, noch dazu in einer Kombination mit anderen? Wer soll das verstehen? Da werden Worte kombiniert, und ihre Kombinatorik soll nicht entscheidend sein, wo bei der Sprache doch die Trennung zum Beispiel von Silben das Entscheidende ist, aber wichtig ist auch, was sie bedeuten, die Worte. Da zählt vielleicht sogar am meisten, was sie bedeuten, wer soll sie denn sonst verstehen? Bitte, wir sind doch alle Menschen, wir verstehen, was die Sprache sagt, wir verstehen sogar, was Fremdsprachen sagen, aber wenn sie uns nichts sagt, kann sie keinem was sagen. Was sagt diese Sprache eigentlich? Das ist doch alles kombiniert, aber es sagt nichts, es sagt nichts aus! Sonst hauen wir es in die Fresse, bis es nichts mehr aussagen kann. Und aus! Endlich sterben! Nach langer, mit großer Geduld ertragener Folter gestorben. Was macht der Jud mit der Sprache? Der Jud macht viel mit dem Wort, das am Anfang war und am Ende auch noch da sein wird, auch wenn er nicht mehr da ist, aber das ist wie im Gebirg. Es ist wie überall. Er gehört dort nicht hin und auch sonst nirgendwohin. Wir haben ihm gezeigt, wohin er gehört, wir haben ihm seinen Platz gezeigt. Und er gehört in unsere deutsche Sprache auch nicht hinein, weil er Worte zwar kombinieren mag, aber sie heißen nichts. Wie kann der Jud je wissen, was die Worte heißen, er ist dem Deutschen ja fremd wie dem Gebirg, und das Deutsche wie das Gebirg ihm. Das ist doch krank!, daß der Dichter da auch noch antwortet, seinem Mörder antwortet und um Folter bittet! Er ist viel zu schnell gestorben, der Ermordete, er hätte gut und gern noch länger leiden können, und bitte, er leidet ja auch, er feilt tagelang an einem Brief, in dem er seinem Mörder erklärt, warum er, der Briefschreiber, zu Recht verurteilt wurde, indem er einen Rekurs dagegen gewagt hat, schon im Wissen (und Max Frisch hat es ihm gesagt, er hat ihn gewarnt, als es schon zu spät war, auch die Bachmann, aber die hat wenigstens geahnt, daß sie selber schon krank war, gerade indem sie versucht hat, sich mit dieser Menge Gesundheit da neben sich zu verbünden; war das vielleicht ihre Krankheit, gesund sein zu wollen durch einen andren, durch einen Gesunden?, wollte sie sich an der Gesundheit eines anderen anstecken?, die Bachmann hat Celan in dieser Sache nichts gesagt und alles, sie hat alles gesagt, was nicht viel war, weil es für ihn nichts sein konnte, obwohl es viel war, was sie dazu zu sagen hatte, über Ungerechtigkeiten und Beleidigungen und Verachtung und Gleichgültigkeit. Sie hat einen Vorhalt gemacht. Doch ein Vorhalt bedeutet ja auch nur Aufschub, bevor die Musik, die kleine Dissonanz, sich erlöserisch, gleißnerisch, anbiedernd auflöst in eine Harmonie, ein kurzer Moment des Aufschubs so ein Vorhalt, und dann gibts keine Verhaltungen mehr, dann gehts  zügig in die Dur- oder Mollauflösung, beides als schön empfunden, wenn auch als etwas Unterschiedliches), daß das Beste, was er kriegen wird, nur weitere Folter sein wird, und das wird eine ordentliche Folter werden, mit Allem, wir machen keine halben Sachen, wenn wir foltern, und diese Folter wird die schlimmste sein, denn nur man selber ist schuld an ihr, man hat sie sogar angeordnet, man hat angeordnet, daß man selber zu Ungeziefer wird, nur weil man IST, auf das andre sogar Apfelstücke werfen mögen, und die bleiben in der armen Haut, die beim Käfer ein Panzer ist, aber trotzdem, auch noch stecken, die muß es auch noch mitschleppen, das Geziefer, das hat es nun davon, daß es Ungeziefer geworden ist und wie solches auch vernichtet werden muß, vergast werden muß, das hat es nun davon! Hätte es sich bloß nicht bewegt, wäre es bloß nicht die Wände hochgegangen, die Decke gar!, dann hätte man es vielleicht übersehen. Wär es nur nicht ins Gebirg gekrochen, wo es nicht hingehört, aber trotzdem da ist, das Ungeziefer! Das wird kriegen, was es verdient, und das hat es auch gekriegt. Der Gefolterte, der noch kein Obst im Rücken hat, den Apfel aber schon erwartet, der ihn aus dem Paradies des Lebens hinauskatapultieren wird, nein, nicht jeder Gequälte wird auch noch mit Obst beworfen, manche bekommen auch das gute Gas, damit sie verschwinden, der Gefolterte nennt die Namen der Gasanstalten, der deutschen Gaswerke: Auschwitz,  Treblinka, Theresienstadt, Mauthausen, er schreit: Morde! Morde! Morde!, bitte, ich bin zwar krank, aber was ein Mord ist, das weiß ich trotzdem noch, und er spricht zu seinem Mörder: Es war tatsächlich hoch an der Zeit, denjenigen, der – das mag an seiner Herkunft liegen (!), ja, so hat man damals sprechen dürfen, denn man hatte den Schlüssel dazu, und man konnte etwas verschlüsseln, oh, das war aber doch nicht nötig, wir verstehen schon!, so hat man sprechen dürfen, wenn man gesund war und es einem wieder gut gegangen ist, weil man bei einer Zeitung gearbeitet hat oder woanders, ist doch egal, gearbeitet hat an der Folter, die man immer verbessern kann, Studienrichtung Folter, bitte gern, wir schreiben Sie dafür gerne ein, der Kurs ist schon recht gut belegt, aber für Sie machen wir immer Platz!, dann können wiederum Sie sich in einen anderen einschreiben, das müssen Sie nicht einmal eingeschrieben schicken, denn jeder kann es kaufen oder sich zuschicken lassen, ohne daß geschrieben würde, ohne daß etwas eingeschrieben wäre, denn wenn Sie das Geschriebene sehen, ist das Schreiben schon vorbei, ist der Mord schon vorbei, nein, aufräumen müssen Sie schon selber, wo waren wir?, - das „mag an seiner Herkunft liegen“, ja, also, der Ermordete spricht aus sich heraus, er kennt sich nicht aus, aber sprechen kann er noch, irgenwie muß die Folter ja auch verlängert werden, und ihm bleibt nur das Sprechen und das Schreiben,  und er sagt , daß der, an dessen Herkunft es liegen mag, daß er unverbundene Sätze von sich stößt wie ein Tintenfisch die Tinte (Kranke Sätze müssen natürlich auf den Verbandplatz, wo die deutschen Literaturverbände schon warten, daß sie einen erwürgen können, obwohl sie auf andre Glieder gehören würden), und der lebende (noch lebende) Tote schreibt um Gnade, ohne zu winseln, aber auch Winseln hätte ihm nichts genützt, die Zeitung war ja längst ausgeliefert, die verbundenen Worte, ich meine, die Worte, für die Verbände vorhanden waren, die Verbände der Gesunden (aber die brauchen doch gar keine, oder? Naja, vorübergehend vielleicht schon, vorübergehend kann ein Verband recht nützlich sein, aber irgendwann ist man endlich wieder gesund), der Strotzenden, der Protzenden, der mit ihrer Gesundheit Prunkenden, was wollte ich sagen?, ich kann ja nicht einmal die Worte zu Verbänden zusammenschließen, ich bin aber auch krank, das soll aber keine Entschuldigung sein, Entschuldigung!, also, wo waren wir, der Kranke sagt, daß der, an dessen Herkunft es liegen mag, daß er nicht ganz gedächtnislos deutsche Gedichte schreibe, „entlarvt“ werden müsse dafür, daß er das tut. Der Kranke muß entlarvt werden, daß er so kranke Gedichte schreibt. Aber wie könnte ein Kranker gesunde Gedichte schreiben? Die Gesunden sogar machen ja auch lieber gesunde Geschäfte als gesunde Gedichte, die ihnen nichts einbringen. Ein wenig bringt ihnen die Ermordung der Kranken ein. Danke vielmals. Wir haben schon. Wir sind schon wieder ermordet worden, das kennen wir schon. Bitte morden Sie dort drüben weiter, dort stehen noch ein paar, dort stehen noch ein paar unverbundene Worte, die dringend einen Verband benötigen! Gehen Sie weg und tun Sie desgleichen. Oder so ähnlich. „Ich agiere im Leeren“, sagt der Dichter. Wäre diese Leere ein Vakuum, könnte er sich irgendwie oben halten, herumschweben, aber sie ist einfach nur leer. Die Gesunden schreiben weiter über Kafka oder über wen auch immer, ohne daß ihnen die Gesundheit beim Ärmel rausrutscht und die Tinte in ihrem Füller oder die Fülle in ihren Gedanken stocken würde. Sie sind von sich selbst überwältigt. Der Kranke ist nichts. Nichts. Er agiert im Leeren. Er ist selber ausgeleert und tot und weiß es auch. Die Bachmann ist auch schon lange tot gewesen, aber sie wußte es erst, als es zu spät war und die Gesundheit sie bereits erwischt hatte. Die erwischt alle. Die Krankheit nur einige. Die Gesundheit, wenden wir uns zu, wenden wir uns Max Frisch zu, dem modernen Menschen. Dem Menschen, der die Verurteilung der political correctness schon vorausgenommen hat, sie sich schon im voraus einmal kräftig vorgenommen hat, als es sie noch längst nicht gab. Der kluge, sachliche, analytische, moderne Mensch, der krank werden mag, aber nie krank ist. Er könne auf diese Blöcker-Kritik nicht so reagieren, wie Celan es erwarte, gibt er an. Das geht nicht. Argwohn: Ob Celan wohl zu einer Freundschaft (noch) bereit sein wird, wenn er, Frisch, mit ihm nicht einverstanden ist? Unter Gesunden wird so etwas kein Problem sein. Jeder sagt, was er will, und daher darf er sagen, was er will. Bei anderen ist das Sagen eben schon von je her krank. Wie sollen wir Gesunden damit umgehen? Mit beispielhafter Analytik und Intelligenz, ganz ausgezeichnet!, wenn man so intelligent ist, braucht man keine Krankheit mehr, um zu schreiben. Wer braucht schon eine Krankheit? Gesund ist viel schöner, sagt Max Frisch zu seiner Liebesgefährtin Bachmann, die sich verzweifelt an ihn klammert, um auch etwas Gesundheit, wenigstens für eine Weile, von ihm abzubekommen, wenigstens ein bißchen!, vielleicht färbt die ja ab, die Gesundheit?, das zieht uns Kranke schon sehr an, meint die Bachmann vielleicht (ich weiß nicht, was sie meint), wenn wir uns an die Gesundheit klammern dürfen, obwohl wir ahnen, daß Gesundheit für uns gar nicht so gesund ist, aber sie hat halt so eine starke Anziehungskraft, ja, Gesundheit hat Kraft und bringt rote Wangen, Krankheit hat nichts und ist nichts und ist nichts wert, millionenfach ist das schon bewiesen worden, Millionen Kranke sind tot, die Gesunden sind es leider auch, früher oder später, doch Krankheit vor dem Tod brauchen wir nicht, wieso ist die überhaupt noch da?, wir haben ihr schon vor ein paar Jahren gezeigt, wo die Tür ist, die Tür befindet sich in einem Verbrennungsofen der Firma Topf & Söhne, jawohl, dort gehts raus, dort gehts lang!, einen andren Ausweg kennen wir nicht, bitte, Sie können uns einen zeigen, aber das heißt noch lange nicht, daß wir ihn einschlagen werden, wir schlagen lieber Schädel ein, Schädel auch von Babys, das macht uns gar nichts, ob Kind oder Greis, alle dürfen diesen Ausweg wählen, sonst wählen wir ihn für sie. Die Gesundheit ist ganz erschüttert von all diesen Schrecken, von diesen entsetzlichen Ereignissen, das muß er, Frisch, wohl nicht eigens betonen, das versteht sich doch von selbst für einen Gesunden, daß er solche entsetzlichen Ereignisse nicht billigen kann, die waren doch wirklich krank!, auch wenn sie nicht billig waren, wenn sie die Deutschen teuer zu stehen gekommen sind, wir konnten sie nicht billigen, denn sie haben das deutsche Volk, das daran immer noch abzahlt, eben einiges gekostet, und sie kosten immer noch, sogar nachdem die political correctness, an deren Abschaffung so viele so fleißig geackert und sich selbst, jeder mit seiner ganz eigenen Meinung, in die Furchen gesät haben (früher hat es Furcht gesät, das hat Todesfrüchte getragen, das hat auch Milch gegeben, die schwarze Milch, die man in der Früh trinkt, da man im Halbschlaf noch nicht merkt, daß sie über Nacht schwarz geworden ist), damit dort kein andrer mehr hin kann und irgendwas ausstreuen, da könnte ja jeder kommen, und da kommt auch jeder, jetzt ist alles gültig, ein für allemal, die Korrektheit haben wir nicht mehr nötig, wir analysieren vollkommen frei, wir assoziieren noch freier, schauen Sie her, wie ich das kann!, na, geht doch!, Sie können das auch, und Max Frisch ist einer der Väter der Genauigkeit, welche die P.C. ersetzt hat, der moderne Mensch schlechthin, klug, analytisch, anal, er sieht die Schwachstellen, bevor sei noch auftauchen, Hitlerei! Hitlerei! Hitlerei! Pfui! Die Schirmmützen!, da sind sie schon wieder, überall sehen Sie sie, diese schrecklichen deutschen Mörder, während ich, Max Frisch, die Wahrheit sehe, und genau das ist die Wahrheit, aber die Wahrheit ist doch viel mehr, seien wir ehrlich, sie ist vielmehr: erlauben Sie mir! Erlauben Sie! Mißdeuten Sie mich nicht, lieber Paul Celan!, das ist eine Gefahr, daß Sie mich, Max Frisch, Ihren Freund, jetzt mißdeuten, das sehe ich ganz deutlich, ich sehe sogar, daß Sie mich vorsätzlich mißdeuten werden, aber Sie sind krank, man muß nachsichtig sein, Kranke haben nicht viel Bewegungsspielraum und sehen nur, was sie sehen können, und sie sehen auch nur, was sie sehen wollen, aber das ist krank, denn sie müssen sehen, was IST, der Käfer hat da was im Rücken stecken, das er nicht sehen kann, aber er weiß, es ist ein Stück Obst, das ihm wehtut und am Krabbeln hindert, das ist eine Behinderung, das ist krank, es ist sowieso krank, daß ein Mensch Ungeziefer werden kann, krank, krank, krank das alles!, was sagt die Gesundheit dazu?, der berühmte Schweizer Gesunde sagt die Wahrheit, anders kann ich es nicht ausdrücken, anders kann auch er sich nicht ausdrücken, und es stimmt, wenn er sagt: Mißdeuten Sie mich nicht, lieber Paul Celan, ich zweifle nicht an Ihrem Entsetzen über Symptome der Hitlerei, die auch mich entsetzen (aber natürlich! Die entsetzen jeden, bevor er sie wieder durch die Tat mühelos ersetzen kann), und wäre Ihr Ausruf mit der Hitlerei und den Schirmmützen nicht erfolgt im Zusammenhang mit einer literarischen Kritik an Ihnen, lieber Paul Celan, die Ihnen auch sonst ärgerlich sein mag, ist ja auch nur zu verständlich, man freut sich oft nicht über eine Kritik (daß sie aber töten kann, wissen nur die Kranken! Das gilt ja auch nur für sie), so wäre ich auf das politische Problem eingegangen, sagt Max Frisch. So aber, so aber, so aber... „Denn wäre in Ihnen, mit Bezug auf diese Kritik (an Ihren Gedichten), auch nur ein Funke gekränkter Eitelkeit (wie ekelhaft, ein Kranker, der auch noch eitel ist, wahrscheinlich ist er auch noch stolz auf seine Krankheit! Das wäre ihm zuzutrauen, der ist ja so zutraulich, wenn man ihn kritisiert, dann schmiegt er sich noch an seinen Mörder und verlangt die Folter, verlangt sie, die Folter, und wenn er sie nicht kriegt, foltert er sich halt selber, indem er dem Kritiker seine Worte zurückschmeißt, aber der ist ein Insekt, das den Apfel, den man nach ihm wirft, gar nicht spürt, ein Gesunder steckt sowas weg wie nichts, das sage ich, dies alles sagt nicht Max Frisch), aber jetzt spricht er wieder weiter, wäre da nur ein Funke gekränkter Eitelkeit also, so wäre ja die Nennung der Todeslager, scheint mir (Frisch), unerlaubt”, unerlaubt, unerlaubt, ungeheurlich, ungeheuerlich, ungeheuerlich! Mißdeuten Sie mich nicht, sagt der unheilbar Gesunde, der auch noch recht hat. Recht hat er, Tote zu hinterlassen. Er ist gesund, und er hat recht. Das ist das Entsetzlichste. Daß er recht hat. Auf Wiedersehn.

 

14.9.2008

Abbildungen: Silser See, Sils/Maria, Engadin

 


Krankheit und der moderne Mann © 2008 Elfriede Jelinek

 

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