Keine Anweisung, keine Auszahlung, kein Betrag, kein Betrug.

(Ein paar Anmerkungen zu „Neid“)

Ich habe das Gefühl, etwas zum Privatroman „Neid“ sagen zu müssen. Jetzt flehen mich schon seit Wochen meine besten Freundinnen und Freunde an, fast weinend, das Buch „Neid“, das gar kein Buch ist, nicht lesen zu müssen. Sie glauben, sie müssen es, wie jedes ordentliche Buch (bei dem man das Ende nicht vor dem Anfang kennen soll, manchmal, bei einem Krimi, will man das ja wider besseres Wissen), von vorne bis hinten durchlesen. Gut, also kein Buch, meinetwegen, ja, wegen mir!, aber: Ausdruck kompliziert und papierverschlingend, neuer Toner muß gekauft werden, die Blätter fliegen herum wie Vögel, man kann sie nicht bändigen, man kann sich mit diesem Papierhaufen nicht auf den Balkon setzen, überhaupt nicht ins Freie, ins Offene, man kann das nirgendwohin mitnehmen, es kommt alles durcheinander. Man muß es dann womöglich wieder ordnen. Man bereut schon bald bitter, es ausgedruckt zu haben, denn nun ist das Papier verschwendet, das hat ja schließlich auch was gekostet, Bäume mußten gefällt werden, nur damit einem selbst das dann überhaupt nicht gefällt, was man da liegen hat, dieser Klotz, dieser unordentliche Papierstrunk, dieser Blättertorso, den man nie im Leben auf Kante kriegt, nicht einmal, wenn man sich die Kante selber gibt. Wie beträgt man sich diesem Betrug, ich meine diesem Roman gegenüber? Bitte, ich zum Beispiel möchte das eh nicht lesen müssen. Mir ist das ja egal, ob es jemand liest oder nicht, und meine Freunde bleiben weiterhin meine Freunde, ob sie meine Sachen nun lesen oder nicht. Was jammern sie mich an? Ich doch nicht! Was auch immer. Ich möchte nur gern sagen, wie ich es mir vorstelle: Man soll den Text überhaupt nicht ausdrucken. Man kann natürlich, aber man soll nicht. Man kann machen, was man will, das sowieso, die Menschen beklagen sich ohnedies immer. Sie wollen, daß man weiß, was sie über einen denken. Man tut ihnen einen Gefallen, sie zu enttäuschen, denn dann haben sie noch mehr Grund zur Klage. Das freut sie so sehr, das freut sie umso mehr. Ich schaue über die Menschen hinweg, egal, was sie tun, nicht im Sinn von Arroganz, im Gegenteil, sondern weil ich vielleicht zuwenig Zugehörigkeitsgefühl zu ihnen habe, was sie mir nicht eigens zu sagen brauchen (sie tun es ja trotzdem, weil sie alles trotzdem tun, jetzt erst recht). Ich schaue über sie weg und gehe durch sie hindurch, weil ich sie gar nicht mehr anschaue und auch nicht zu ihnen gehe. Dieser Text mit Namen „Neid“ gehört nicht in ein Buch. Er gehört nicht auf Papier, er gehört in den Computer hinein, dort habe ich ihn hineingestellt, dort habe ich ihn deponiert, dort kann er in Ruhe verderben wie Müll (nur auf Wunsch und mit Hilfe einiger Knopfdrückereien können Sie ihn sich aber holen, wann Sie sollen, solang Sie und soviel davon wie Sie Wollen), und bin dann einfach weggegangen. Ich weiß ja, daß der Roman dableibt, auch in meinem eigenen Gerät mit dem Flachschirm. Er ist zur Entnahme frei, der Text, was ich nicht bin. Ich bin nicht frei, schon gar nicht zur Entnahme, wer würde mich auch nehmen, wer würde denn dem etwas entnehmen wollen, was ich sage? Ich hebe ja oft Tagesneuigkeiten und Aktualitäten, auch Klatsch und Tratsch, in die Texte hinein, um ihnen ihr Verfallsdatum einzuprägen. Das muß man ihnen immer wieder einbläuen, sonst vergessen sie es. Jeden Augenblick können sie fällig sein, und das ist gut so. Wenn ich sterbe, warum soll dann dieses Geschreibe leben dürfen? Es darf aber, irgendwo wird es überleben, in irgendeiner Maschine. Ich hätte vieles, das mir zu intim war, niemals in einem Buch schreiben wollen und können. Es soll so schnell verzehrt sein wie ein Hamburger oder eine Leberkässemmel. Es ist zum raschen Verbrauch bestimmt. Holen Sie es sich, wenn Sie wollen, wann immer Sie wollen, in Ihr Handy, auf Ihren Computer, in Ihr electronic book (nein, sowas haben Sie wahrscheinlich noch nicht, aber bald werden wir es alle haben, alles andre haben wir ja auch gekriegt), wenn Sie zehn Minuten warten müssen, an einer Haltestelle, auf einem Bahnhof, in einer Hotellobby, ein paar Stunden auf einem Flughafen, in einem Lokal. Holen Sie sich einen runter von mir, holen Sie sich etwas von mir runter, überfliegen Sie es, buchstabieren Sie es, kriechen Sie rein, kommen Sie wieder raus oder bleiben Sie drin. Die Sache ist ordentlich gearbeitet und ixmal überarbeitet, aber Sie können es einfach so überfliegen, als wäre das nichts, unter Ihnen, über Ihnen, vor Ihnen: nichts. Sie können es fressen oder sofort wieder wegschmeißen, Sie können alles, Sie haben nichts bezahlt, ich habe mit meinem Leben bezahlt, doch das ist nicht Ihr Problem, Sie können es für eine Sekunde laden und dann gleich wieder rausschmeißen. Das ist ein wunderbares Gefühl, welches ich genieße, obwohl ich gar nicht weiß, was Sie jeweils damit machen und Genuß leider nicht meine Spezialität ist. Aber bitte: nicht ausdrucken (Sie können es sich aber auch in Schweinsleder binden lassen, auch darüber hätte ich nicht zu entscheiden)! Es soll da sein und verschwinden, gleichzeitig oder hintereinander, es soll eine gespensterhafte Erscheinungsform haben, dieses Geschriebene da vor Ihnen. Die gespenstische Existenz eines Wesens, das da ist und auch wieder nicht, ein Phänomen, das mich schon immer interessiert hat: lebende Tote, die nicht wissen, daß sie tot sind, Geister, Gespenster, Erscheinungen, Grusel, Schauder. Etwas, das ist und gleichzeitig nicht ist. Etwas, das sich zur Schau stellt, wenn auch ohne das Gepränge, das der Buchmarkt und das Feuilleton manchmal mit sich bringen, um Ohnmacht bzw. Aufmachung (Verlag, Buchhandel) oder Macht (Feuilleton)  zu demonstrieren. Ich habe mich für die Flüchtigkeit entschieden, was meinen Text betrifft. Ich bleibe immer da, schicke meine Sachen jedoch auf Wunsch überall herum, in, ja, in all ihrer Flüchtigkeit (vielleicht Flüchtigkeit, gerade weil ich selbst nicht fliehen kann?). Jeder Mensch (oder keiner) kann sich das aus dem universellen Raum des Nichts materialisieren lassen, eine Zeile lesen, hunderte Seiten lesen, alles eins, und dann kann er das wieder verstoßen. Er kann es mehrmals aufrufen und parallel lesen, neue Verbindungen auf dem Bildschirm herstellen. Überhaupt selber Neues schaffen. Er kann sich was erklären oder nichts erklären, er oder sie, sie können sich was erklären lassen oder auch nicht. Sie können es sich anders erklären als ich es tue. Ich habe mit Entschiedenheit das Machtmittel Buch und Buchbetrieb zurückgewiesen, nur für mich, ich mache ja keine Regel draus, ich bin für mich da, sonst ist es ja keiner. Genau: Keine bin ich auch! Ich bin auch für Sie da, wenn Sie das wollen, und wenn Sie es nicht wollen, bin ich sofort wieder weg. Ich will keine Macht mit diesem Text entfalten wie Buchseiten, im Gegenteil, ich will jede Macht aufheben und Ihnen dafür die Vollmacht übertragen: Machen Sie damit, was Sie wollen. Ich gebe mich ganz in Ihre Hand, schmeißen Sie mich weg oder behalten Sie mich ein wenig, eine Weile, ganz wie Sie wollen. Durch die rasch, beinahe sofort verderbenden Aktualitäten im Text habe ich ja die Flüchtigkeit des Geschriebenen geradezu beschworen, weil alles jederzeit wieder vollkommen und spurlos verschwinden kann. Das ist doch eine Chance, oder? Gehören Sie zu den Genießern oder den Entsagenden oder den Hassern?, von mir aus, oder gehören Sie zu gar niemandem?, hören Sie mir zu oder nicht; ich merke das ja gar nicht, ich merke nicht, zu wem Sie gehören, Sie können gehören, wem Sie wollen. Dieser Text gehört mir, ob Sie wollen oder nicht, ich habe ihn an niemand verkauft, ich behalte ihn, aber Sie können ihn jederzeit haben, wenn Sie wollen und wann Sie wollen. Und noch nicht einmal geliehen. Er gehört ganz Ihnen, wenn Sie mögen. Und dann ist er wieder weg. Sie müssen nichts herumschleppen, Sie müssen keine Lesezeichen einlegen, Sie können Lesepausen einlegen, Sie können das alles überfliegen, Ihre Augen können woandershin gehen als Sie selber, Sie können woandershin gehen als Ihre Augen, die herumschweifen und sich heften an ein Wort, einen Buchstaben, einen Satz, einen Absatz, hundert Seiten, egal. Ich teile mein Eigentum in all seiner Flüchtigkeit mit Ihnen, um, wie gesagt, selbst die Illusion zu haben, jederzeit weg zu können, oben am Bildschirmrand ins Nichts abtauchen zu können. Dieser Roman ist da und gleichzeitig nicht da, in all seiner Rücksichtslosigkeit gegen mich (und äußersten Rücksichtnahme gegen Sie, denn Sie allein bestimmen ja über ihn!), in all seiner Leere, wenn man ihn mit einem einzigen Knopfdruck entfernt hat. Das ist es vielleicht: Die Leere zum Vorschein bringen, durch den Druck einiger Tasten. Es wird alles ganz weiß, weil Sie es vorhin gerade gelöscht haben. Es kann aber jederzeit wieder gerufen werden. Ich zähle nicht, wie oft und was wie oft. Ich zähle auf niemanden und zu niemandem. Ich habe Sie längst ausgeblendet, jetzt können Sie dasselbe mit meinem Werkchen machen, das ich ist und wieder nicht ich ist, auch wenn es Ich sagt oder dem Ich widersagt oder es dem Ich immer wieder reinsagt. Ich durchbreche jedes Ziel und mache am andern Ende weiter, auch wenn ich zu schwach bin, das Zielband zu zerreißen, das Sie mir da dauernd vorhalten, sodaß ich nicht einmal mit Zielvorgabe loslaufen kann, weil da schon das blöde Band ist, das doch so leicht zu zerreißen wäre. Ich bin am Ende. Ich bin am Anfang. Sie können das auch, jederzeit! Sie können sein, wo immer Sie wollen. Ich kann nicht sein, wo ich will. Dafür kann ich mein Schreiben schicken, wohin ich will, auch wenn ich nicht weiß, wo das ist. Was sagt man dazu? Diese Rücksichtslosigkeit, die gleichzeitig Leere ist und Leere hinterläßt, erweckt den Eindruck, daß der Machthaber (Heidegger spricht in diesem Sinn von ihm, und die Machthaberei wird den Künstlerinnen und Künstlern seltsamerweise immer zugeschrieben, Machthunger auf ihr Publikum, aber genau das will ich nicht, ich will diese Verhaberei sowieso nicht, der Filz kann zu einer Fußangel werden) etwas kann, was eigentlich jeder kann, was jeder vollziehen kann. Und auch das können Sie ja gern ausprobieren. Stellen Sie sich neben mich, einen Augenblick, fünf Minuten, eine Stunde, ein paar Stunden, Sie werden sehen: Sie können das auch! Es ist unverbindlich, denn es will nichts verbinden, kann es aber auch, wenn gewünscht, es kann ein Pflaster für eine Wunde sein oder selbst eine Wunde aufreißen. Es gehört nichts dazu außer ein paarmal Knopfdrücken und Mausfahrereien und Gedankenschiebungen. Nichts ist echt, alles ist ich. Ich bin nicht echt, was soll an mir schon echt sein? Nicht einmal die Farbe auf meinen Augenlidern, denn die ist dorthin geschmiert worden. Wo Ich draufsteht, ist zwar Ich drin, aber Ich ist sowieso nicht Herr im eigenen Haus, es ist höchstens der Hausmeister, der die Böden des Bodenlosen wischt. Aber das alles kann Ihnen egal sein. Wenn Sie ich sein wollen – bitte, von mir aus, aber wenn Sie ich wären, würden Sie merken, daß Sie alles sein wollen und überall, nur nicht ich und nur nicht dort, wo ich bin. Oder bitte, von mir aus, lernen Sie nichts, auch das können Sie. Sie können das Nichts, und Sie können alles, Sie können ein Wesen oder ein Unwesen sein, indem Sie Macht über andre (und wäre es Ihr Hund oder Ihr Partner oder Ihr Kind) ausüben wollen. Ich will das nicht. Ich will es nicht. Ich bin mir genug. Und ich habe von Ihnen genug, selbst wenn Sie nicht genug von was auch immer kriegen können. Bleiben wir getrennt! Das ist gut so. Aber das Bleibende möchte ich nicht geschaffen haben, also bitte nicht ausdrucken! Lassen Sie es laufen. Es genügt, daß ich derweil noch dableiben muß.

 


Compartiment C, voiture 193, Edward Hopper, 1938

21.6.2008/25.6.2008


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