Fahrt nach Anina
(Notiz)

 

Ich bin mit meiner Mutter, deren Mutter (also meine Großmutter mütterlicherseits) aus Steierdorf stammt (später ungarisch: Stajerlak, dann, rumänisch: Anina, Jud Caras Severin), in diese Gegend gefahren, mit dem Auto sogar (ich fahre längst nicht mehr Auto), sie, meine Mutter, wollte gern das Dorf ihrer Kindheit wiedersehen. Ihre Mutter war eins der Kinder eines Schmieds und Dorfschulzen (in der Monarchie war die Gegend ja ein ziemlich bekannter Luftkurort, dann hat Ceauşescu das ganze Gebirge umwühlen und zu einem Stahlkombinat umbauen lassen und alles zerstört). Als wir dorthin gefahren sind, es muß 1970 oder 71 gewesen sein, haben von der Familie noch zwei Cousinen gelebt, ihre Männer auch, einer war Rumäne (und ein Jugendfreund Ceauşescus, er war dessen Vorgesetzter bei der Bahn), der andre auch Deutscher. Die Familie (wie überhaupt fast alle Leute dort, zumindest die Alten, die ja drei Nationalitäten hatten, hintereinander) hat Deutsch, Ungarisch und Rumänisch gesprochen, was mich sehr beeindruckt hat. Diese Vielsprachigkeit, die ich dort überall angetroffen habe, allerdings auch mit einem starken Drall zum Deutschnationalismus, was wohl dem Minderheitenstatus als Deutsche geschuldet war, hat mir eine Art Kultiviertheit und Weltoffenheit gezeigt, die man heute nur noch selten findet. Es werden heute andre Sprachen gelehrt und gelernt (außerdem konnte ich mich auch noch auf Französisch mit meinem Onkel Ticu verständigen! Allerdings wiederum nicht auf Deutsch). Herta Müller hat das ja so wunderbar und immer wieder beschrieben, das Leben als Mitglied der deutschen Minderheit in diesen Dörfern. Ich habe die Gegend als sehr arm und trostlos in Erinnerung, ein einziger aufgewühlter Erdhaufen mit kleinen Häuschen dazwischen, davor Hühner und Kettenhunde. Es war das erste und letzte Mal, daß ich meine Verwandten aus Rumänien getroffen habe. Inzwischen sind sie alle tot. Eine meiner Cousinen ist aber noch jahrelang hinuntergefahren. Ich erinnere mich, daß ich quer durch Jugoslawien gefahren bin, wo ich die einzige Frau am Steuer war, und in Rumänien habe ich (damals) so gut wie überhaupt keine Autos mehr gesehen, und mein kleiner Opel Kadett war die Attraktion, um die sich die Menschen geschart haben wie um ein Marienwunder. Ich erinnere mich an die riesigen Schafweiden, die wilden Hütehunde, und daß ich in einem der Schafställe eine junge Frau getroffen habe, die dort ihren Großvater besucht hat, und in einem medizinischen Lehrbuch für ein Rigorosum gelernt hat. Das hat mich sehr beeindruckt. Es gab auch Wolfsspuren am Boden.

Meine Mutter ist aber noch als sehr kleines Kind nach Wien gekommen und dort aufgewachsen. Meine Großmutter, die Tochter dieses Dorfschulzen und Schmiedes, hat dort, als Kurgast offenbar, meinen damals sehr wohlhabenden Großvater (den Sohn eines großen Seidenfabrikanten) kennengelernt. Sie hat ihn gefragt: „Können Sie mir ein besseres Leben bieten?“, und da sie sehr schön war, hat der Großvater gleich ja gesagt, sie geheiratet und mitgenommen. Meine Großmutter hat er gewollt, der Großvater, die Seidenfabriken nicht, er war geschäftlich offenbar unfähig, und so ist alles den Bach runtergegangen, wie man so schön sagt. Durch Kriegsanleihen ist das Vermögen hinterher geschwommen. Und so sind nur die Familienvilla (inzwischen, aber erst in letzter Zeit verkauft), die Familiengruft auf dem Kalksburger Friedhof (neben der Hugo v. Hofmannsthals, meine Großmutter durfte dort aber nicht hinein) übriggeblieben. Meine Großmutter wurde in Wien von den hochnäsigen Verwandten als „Ausländerin“ geschnitten und verachtet, was sie psychisch ziemlich zerbrochen hat. Darunter haben wieder meine Mutter und in der Folge habe ich sehr gelitten, denn Wut, Haß und Frustration werden immer weitergegeben, von Generation zu Generation. Ich war (über einen halsbrecherischen Bergpfad bei Reschiţa-Reschitz) damals in diese wilde Gegend gekommen, die einst schön gewesen sein muß, aber man hat davon nichts mehr bemerkt, ich habe nur nasse Erde und nasse erdgraue Häuser in Erinnerung, ich war damals selbst überrascht von meinen rallyereifen Autofahrkünsten (ich bin ja über Hühnerpfade und ähnliches gefahren!) und dann noch bis Temeschwar gekommen, wo eine der Tanten ein Häuschen hatte. Jetzt sind sie, wie gesagt, alle tot. Zuerst sind ihre Männer gestorben, dann die Frauen. Und jetzt ist nichts mehr von uns dort übrig.

24.12.2006

 


Fahrt nach Anina © 2006 Elfriede Jelinek

 

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