Angst 2

Verstörung

In Angst leben, heißt, in sich als im Glashaus Sitzen und von innen her gegen sich mit Steinen Schmeißen. Nein, eher: sich von innen her mit etwas anspritzen, das einen dann wie Säure zerfrißt. Und man kann sich bei niemandem beschweren, denn man hat sich ja selber angeschüttet, es kommt von einem selbst, das Gift. Hinauszukönnen kann unmöglich die einzige Sehnsucht sein, die einem bleibt, was ist denn schon dort draußen, das durch einen Griff nach dem Fernseher nicht herbeigerufen werden könnte? Wozu noch diese Sehnsucht, die von der Angst hinter einer Stirn verborgengehalten wird? Die Vorstellung, man sei da, und das Außen etwas Schönes, das man sich nach Belieben anschauen könne, gefahrlos, weil man ja dabei in sich ruhen bleibe, stimmt für den Ängstlichen nicht. Er ruht zwar, aber das ist auch schon alles. Er weiß, im Grab könnte er besser und vor allem bequemer ruhen als in sich, und trotzdem kommt er nicht heraus, nicht einmal um zu sterben, was er ja auch fürchtet. Er sieht Tode dort, wo andre Charterflüge und Strände und Schipisten sehen.  Er kann nicht aus sich herausschauen, denn draußen lauert die Gefahr, der Tod, obwohl der Tod sicher ein bessergeschnittenes Kleid wäre als er selber, der Ängstliche, es für sich ist, eins, das ihm paßt, denn der Tod paßt jedem, steht aber nicht jedem, er ist aber dennoch jedesmal anders, ein typisches Kennzeichen der Mode, immer dasselbe, aber jedesmal anders, damit es wie neu und einmalig erscheint. Angst ist nicht in Mode, denn Angst ist Stillstand im Stillstand, sie nimmt sich ja nicht einmal die Mühe, etwas anderes, einmal etwas andres, wenigstens vorzustellen, da sie nie etwas andres sein kann (und auch nicht anders aussehen kann) als sie selbst, die Angst, die das falsche Maß genommen hat, das falsche Maß selber ist, und daher paßt nie irgendwas, das man an sich anlegen möchte, nicht einmal die Hand, die einem den Gnadenstoß geben soll. Man braucht auch nichts Neues, man geht ja nie aus sich heraus, und für sich selbst lohnt der Aufwand nicht. In sich, in seinem Körperkleid, das noch lebt, hält der Kranke es irgendwann dann auch nicht mehr aus. Die Angst hebt die Trennung zwischen Innen und Außen auf, wozu überhaupt noch Kleidung? Es heißt doch: die nackte Angst! Man liegt ja sowieso bloß da, und überall, wohin man schaut, man selber, und all die Kleider umsonst. Die Angst fügt dem Innen, das ja auch gleichzeitig das Außen ist, Qualen zu, die ans Vorhandensein der eigenen Person des Angstvollen gehen, wie ans Eingemachte, doch sogar das Eingemachte ist immer irgendwie verschlossen. Da ist immer ein Deckel drauf. Man selbst, als Kranker, empfindet sich nie als verschlossen. Man ist unbeweglich, aber jeder kann in einen hineingreifen und sich einen Löffel voll nehmen. Diese Unordnung der inneren Organe, für den Arzt mag sie ja in Ordnung gehen, weil er sich dort auskennt, aber für den, der immer nur in sich hineinschauen muß, weil er nicht aus sich heraus hinausschauen kann, herrscht überall diese ekelhafte Unordnung. Er kann nichts auf die Reihe bringen, der Angstkranke. Die Wirbel mögen schön in einer Reihe als Rückgrat aufgefädelt sein, in hübscher Beweglichkeit, aber der Wirbel im Änstlichen tobt herum, er hat ja kein Rückgrat, und sein Leben hat auch keins. Das, was er anschauen kann, wenn er sich nicht mehr aus dem Haus bewegen kann, fällt nach und nach mit dem zusammen, was er sich vorstellen kann, und das ist schrecklich, weil das, was er sich anschauen kann, ja immer weniger wird und daher seine Vorstellungskraft immer mehr abnimmt, oder nein, nimmt sie zu? Weil der Kranke nur noch auf sie angewiesen ist, die angeblich alles kann? Nein, sie nimmt leider ab, weil sie sich durch nichts mehr speisen kann, was dem Hauptdarsteller seiner Angst (sie hat ja auch etwas Theatralisches, die Angst! Theater ist ja, aus nichts etwas zu machen, und beim Essen geht das irgendwann nicht mehr. Brechts großer Irrtum: daß es aufs Fressen ankommt... ich sage, es kommt drauf an, daß einem vor Müdigkeit - denn Angst ist sehr anstrengend - die Augen aufgehen, aber nie etwas zu sehen kriegen ), was also dem von sich selbst zernichteten Hauptdarsteller, dem, wie gesagt, einfach gar nichts mehr paßt, noch ein Erscheinen abnötigen würde. Die Umgebung hört andauernd, was dem Kranken nicht mehr paßt, dies nicht und das nicht, und sie staunt, denn: woher weiß der Patient das? Er sieht ja nie etwas. Aber er möchte gern. Er möchte gern, aber er kann  nicht. Das Leben soll doch wenigstens einmal etwas Neues bringen, damit man sich das Alte im Sinn des Neuen vorstellen kann! Aber das Alte zerbröckelt nach und nach, weil nichts Neues nachkommen kann. Es könnte vielleicht, aber es kann nicht. Ein Stillstand, der nie Heimkehr wird, weil man ja endlos lang nicht draußen war, um einmal zurückzukommen. Der Kranke kann nicht auf sich zurückkommen und zu sich auch nicht. Er war ja nie weg. Das Außen ist aber natürlich noch viel schrecklicher. Man kann aber nicht einmal den einen Schrecken des Bekannten gegen den unbekannten austauschen; dieser Austausch, eine natürliche Sache, wenn auch nicht die natürlichste der Welt, funktioniert nicht mehr. Der Ängstliche muß jeden Anblick, der sich ihm bietet (einen neuen Anblick sich holen, das kann er nicht, er muß nehmen, was sich ihm bietet), hinnehmen wie ein ganzes Stück Schicksal, und jedes millimetergroße Schicksal ist für ihn das ganze, denn er lebt immer in dem schrecklichen einen Augenblick gefangen, da es ihn nicht gibt (und das ist noch tröstlich,  denn gäbe es ihn, er würde Entsetzliches durchmachen müssen). Indem er Anblicke hinnimmt, die keine mehr sind, weil sie keine Ausblicke mehr sein können, sondern nur noch Innenblicke, nimmt er alles hin, der Angstkranke, er gibt sich selbst ständig sich selbst zurück. Man möchte sich selbst anschreien: danke, ich hab mich schon! Nicht noch mehr von mir! Mehr will ich gar nicht! Aber er übergibt sich weiter nur sich selbst in diesem Hinnehmen, er hat nichts zu geben als sich selbst. Und keinen, dem er sich schenken könnte, als sich selbst. Das ist nicht Vergeblichkeit in dem Sinn, daß der Kranke ja nicht mehr bekommen müßte, was er schon hat, und gern mal zur Abwechslung etwas andres bekäme, sondern es ist viel kreatürlicher: Der Kranke kann nicht mehr der Welt entspringen, im wahrsten Sinn des Wortes, wie ein Gewässer, das irgendwo anfängt, als nicht Greifbares aus dem Nichts des Bodens, plötzlich sieht man es glitzern, das Wasser, aber er kann auch nicht entspringen wie ein Tier seinem Käfig, denn er ist an seine kleine, sehr eingeschränkte Welt buchstäblich gefesselt. Er kann sich nichts mehr anschauen, und er kann auch nichts mehr darstellen, weil er nichts mehr hat, was anschaubar wäre,weder innen noch außen. Die Kraft der Darstellung, der Einbildung, der Imagination ist an die Kraft gekoppelt, sich zu geben, weil man etwas von sich geben kann, etwas wie eine Körperflüssigkeit. Aber auch die Einbildungskraft, mit der man einem andren etwas veranschaulichen könnte, das nicht man selbst ist, na, vielleicht doch man selbst, aber durch einen Etikettenschwindel getarnt als ein andrer, diese Einbildungskraft würde gespiegelt in einem Außen (oder ein Außen, gespiegelt durch einen selbst hindurch, also der Spiegel als simple Glasscheibe, nicht gespiegelt IN einem selbst) das, jedes Außen verschwindet vor der Angst, sie rinnt einem durch die Finger, man selbst rinnt durch sich hindurch, und wo man mündet, das sieht man schon nicht mehr. Indem der Kranke keine Bilder mehr herbeirufen kann, sondern nur noch sich selbst, kann er auch keine Bilder mehr erschaffen. Er hat nichts mehr, was abrufbar wäre. Hat er keinen Ausblick, hat er auch keinen Einblick mehr, dieser Kranke ohne jede Einbildung, weil beides ineinandergestürzt ist und einen unentwirrbaren Trümmerhaufen bildet, der sich nicht einmal mehr Ich nennen kann. Auch wenn man glauben mag, daß die Kraft der Imagination nicht aus dem Anschauen des Fremden herrührt, sondern umgekehrt, daß das Anschauen des Fremden nicht nötig sei, weil Anschauung und Einbildungskraft in eins zusammenfallen (was man nicht in sich hat, sieht man außen auch nicht), würde das für den Angstkranken nicht stimmen. Es stimmt nicht, und zwar in dem fundamentalen Sinn, daß es falsch ist. Es ist falsch, weil nichts richtig sein kann. Es stimmt einfach nicht. Der Kranke verschwindet in seiner Angst, der Verstand kann nichts mehr aufnehmen, das Bett ist belegt mit ihm, dem ungeduldigen Patienten, der aber zusehens geduldiger wird. Was bleibt ihm übrig? Nichts. Da liegt er, das belegte, betretene Brot. Irgendwann sieht ihm keiner mehr dabei zu.  Die anderen sind es leid, daß der Kranke so leidet. Er steht still in sich, aber er kann nicht ruhen, weil er immer so aufgeregt sein muß vor lauter Angst. Nicht einmal in Ruhe anschauen kann er sich selbst, weil er so zittert, daß ihm alles verschwimmt. Dieser Kranke hat sich sich selbst eingebildet. Er ist schon um seine Ausbildung gebracht worden (weil er ja nichts andres als sich selbst mehr erfahren kann), er ist um seine Einbildung gebracht worden, denn eingebildet zu sein, dafür hat er nun wirklich keinen Grund.

Geschrieben für die "Nischen der Angst", gezeigt im Rahmen des 4. Wochenendes der jungen Dramatiker vom 30.09. - 01.10.2006 in den Münchner Kammerspielen.

20.10.2006


Angst 2 © 2006 Elfriede Jelinek

 

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