Wer oder was?
(zu
André Müllers Interviews)
Da
laufen die Menschen herum und leisten sich Subjektivität, etwas Besseres
können sie sich nämlich (ihre Namen bürgen dafür) nicht leisten (und darauf
bauen sie und leisten sich oft eine Menge gegenüber andren Menschen).
Sind sie nicht fertig ausgeführte Gedankenentwürfe, und zwar von Gedanken,
die ein andrer hatte, vielleicht ein höheres, höhnisches Wesen, das sich
endlos über uns amüsiert? Der Interviewer André Müller wird sie schon
fertigmachen, nein, nicht fertig machen, er ist vielleicht so einer, der
diese bereits Geschaffenen, wobei er sich ebenfalls oft glänzend amüsiert,
noch einmal schafft (auch im Sinn von Erschöpfung, die manche sicher nach
Gesprächen von ihm gefühlt haben), aber nicht als seinem Willen oder seiner
Vorstellung entsprechend, ihnen diese Subjektivität damit nehmend, sondern
indem er über sie nachdenkt, aber im Sprechen, im Sprechen denken, nicht
im Gehen, denn André Müllers Sprechen ist Nachdenken, damit er sie versteht,
die Menschen, mit denen er spricht. Nein, ich glaube, das stimmt nicht,
aber warum nicht? Welchen Bezug könnten diese Leute, die da interviewt
werden, zur Welt haben, na, das werden wir schon noch herauskriegen, indem
wir schauen, welchen Bezug sie zu sich selbst haben!
Bin
ich von diesen Gesprächen deshalb so fasziniert, weil ich diese Menschen
nicht (oder fast nie, außer durch ihre Auftritte in der Öffentlichkeit)
kenne? Was macht diese Gespräche André Müllers mit jeweils einem anderen
Menschen zu Literatur, obwohl er etwas sagt und der oder die andere etwas
antwortet, und das jeweils in der eigenen Sprache, die zur Veröffentlichung
zwar bestimmt ist (etliche haben das aber nachträglich wieder zurückgezogen,
was sie gesprochen haben, als hätten sie es nicht gesagt, es ist allerdings
trotzdem da), aber sich das Gesagte dieser Bestimmung auch wieder widersetzt,
es ist ja nur gesprochen? Wieso ist es dann Literatur? Das möchte ich
selber gerne wissen. Macht die Tatsache, die Menschen zu kennen (Müllers
große und für mich nicht durchschaubare Leistung), also das, was sie sagen
(und was er sagt) schon zu Literatur, oder ist es meine Faszination, etwas
zu lesen, was andre gesagt haben, der Genuß, das zu lesen, ohne diese
Menschen kennenlernen zu müssen (andre wollen sie vielleicht grade deshalb
jetzt erst recht kennenlernen)? Ist es für mich deshalb Literatur, was
ich hier lese, weil ich es lesen kann, ohne an die Personen, die eben
etwas darstellen (denn mit anderen würde man nicht öffentlich sprechen,
die würde man nicht öffentlich vorkommen lassen, mit einer Ausnahme: Andrés
Mutter, deren Denken, weil sie seine Mutter ist, etwas anderes vollzieht,
einen Sprung aus der Analytik heraus, auch der existentiellen, in den
einzigen freien Raum, den der Sohn ihr gibt, eben weil sie die Mutter
ist – Herrschaft, späte Herrschaft des eigenen Kindes, die Sprache, die
Muttersprache, die er von ihr gelernt hat, gegen sie zu wenden, die Macht
des Sohnes, der der Mutter damit auch wieder Raum gibt), anstreifen zu
müssen, was mir persönlich nicht angenehm wäre: an Menschen anzustreifen.
André
Müller geht gleich ganz in die Menschen hinein, und dann macht er sie
zu Sprache, und dann werden sie erst sie selbst. Besonders deutlich wird
das bei dem Autor, der Müller am meisten bedeutet, Thomas Bernhard; aber
jeder, der Thomas Bernhard liest, wird er. Gesprochen habe ich nie mit
ihm, sonst wäre ich jetzt auch noch er, eine Überflüssige mehr. Indem
die Leute etwas sagen, sind sie es, einmal mehr, einmal weniger, das liegt
am herrischen Wort ihres Herrn, des Interviewers. Wenn André Müller mit
Thomas Bernhard spricht, ist er es. Dieser Herr ist es. Aber das wäre
dann jeder. Ist es wirklich er? Jetzt weiß ich nicht mehr, wer wer ist.
Aber wenn die Menschen etwas sagen, sind sie es selbst doch schon gar
nicht mehr, oder? Sie werden zu etwas anderem, ohne etwas anderes zu sagen
als das, was sie eben sagen. Das ist der Unterschied zwischen ihrer Wirklichkeit
und der Idee von ihrer Wirklichkeit, die Müller jedes Mal, wirklich immer,
aus ihnen herausholt (herauskitzelt), nichts als die Wahrheit. Und auch
wenn es unwahr ist, was die Leute sagen mögen, es ist, während sie es
noch aussprechen, schon wahr, und diese Wahrheit, die vielleicht gar keine
ist, weil es sie nicht gibt, genau die ist Literatur. Existenz könnte
man sagen, um Heidegger abzuwandeln, ist das Geschick zur Unwahrheit,
ja, die Menschen sind im Geschick ihrer eigenen Unwahrheit. Und was ist
Lüge anderes als Literatur? (Nun ja, manche mögen in der Literatur die
Wahrheit sagen, aber sie ist es nicht; während sie noch ausgesprochen
wird, rinnt die Wahrheit aus wie aus einem Kleidungsstück, das zu heiß
gewaschen wird und seine Farbe verliert, wir würden alle blaß werden,
würden wir mit der Wahrheit konfrontiert, was für ein Glück, daß es sie
gar nicht gibt!). Doch nicht, ob es diese Menschen wirklich gibt oder
ob sie von André Müller erfunden worden sind (er hat Beweise, daß er sie
nicht erfunden hat, aber die gelten für mich nicht viel, Beweise in der
Literatur gelten nicht, in der Mathematik vielleicht, aber dort kenne
ich mich nicht aus), ist hier die Frage, sondern ob diese Menschen wirklich
sind. Die Literatur André Müllers sagt: Die sind wirklich die, die ich
aus ihnen gemacht habe, indem ich nicht gefragt habe, was sie sind, sondern
wer sie sind. Ja, ich meine das so und nicht umgekehrt: Wer sie sind,
nicht was sie sind, das sind sie.

André
Müller
(1946 - 2011)
Wer oder was? © 2011 Elfriede Jelinek

zur
Startseite von www.elfriedejelinek.com |