Die Zeit ist auch nicht mehr, was sie einmal war

Zur dokumentarischen Arbeit von Günter P. Straschek

 

 


Installationsansicht, Museum Ludwig, Köln
Foto: Achim Kukulies
© Rheinisches Bildarchiv Köln

Ausstellungsgestaltung Eran Schaerf


Wenn die Frage nach der Zeit gestellt wird, ist es immer eine Frage nach dem Maß. Wieviel Uhr ist es? Günter P. Straschek legt dieses Maßband sozusagen von hinten an, er legt den Film ein und schaut dann nach, was von dem Vergangenen drauf ist. Er zieht dieses Zelluloid-Band, diesen Streifen, durch seine Finger, er läßt es drüberlaufen wie Wasser, um etwas einzufangen, doch das Wasser rinnt, und es verrinnt immer noch, wie die Zeit, die ganze Zeit, während der Film erst eingelegt werden muß und dann kommt gleich die Frage nach der Haltbarkeit. Es fragt selbst nach nichts, das Wasser, es fließt, das Gefälle gefällt ihm wohl, es interessiert sich nicht für das Wieviel, es kommt, und dann geht es wieder. Will man es irgendwie festhalten, muß man nach dem Eigentlichen fragen, dem Kern, aber das ist eine Absurdität. Das Wasser hat keinen guten Kern, sieht man sich an, was es anrichtet. Es ist wie die Geschichte, die viel enthält, aber wenig Gutes.

Ich sehe das als eine Art Besessenheit von Straschek, etwas festzuhalten, das andere weggeworfen und damit verworfen haben. Die unselige Geschichte Deutschlands, in seinem Fall auf dem Gebiet der Filmproduktion mit allen, die dort zu Hause waren, vom Starregisseur bis zur Cutterin, vom Produzenten bis zum Filmstar, wie man das damals genannt hat. Während Straschek, als Regiestudent in Berlin, die Gegenwart fesseln wollte, indem er sie selbst bestimmt hat, ja dazu gemacht hat, und zwar auch wirklich alles von ihr, mußte er die Vergangenheit an die Gegenwart binden und gleichzeitig aus ihren Fesseln befreien. Da konnte ihm die Zeit nicht dreinreden, höchstens in ihrem Vergehen, denn das ist ja der Film, ein aus der Zeit rinnendes Bild, also viele Bilder, die aber irgendwann auch abgelaufen sind. Wie die Zeit für die in ihr Verurteilten, die vor ihr flüchten mußten (die Zeit selbst ist ja unschuldig, aber in ihr haben Verbrecher gewütet, die sind es nicht: unschuldig, auch wenn man sie nachher oft freigesprochen hat. Und seither arbeiten sie und ihre Adepten daran, sich in der Zeit umzuschulden, damit es immer die anderen waren, die die Taten begangen haben; und als nächster Schritt kommt dann, daß überhaupt keine Taten begangen wurden, von keinem Menschen), davonrennen mußten, die Frage aufwirft, woher sie selbst überhaupt komme, als Zeit, du liebe Zeit!, und wer sie vorbereitet habe, so leidenschaftlich er die Zeit befragt, so heftig muß der Chronist an diesem Vergangenen, Verronnenen zerren, sie sich erneut vorlegen (lassen), eine Sisyphosarbeit, nein, der war kein glücklicher Mensch, keiner, der das versucht, ist einer, denn man kann nie alles fassen, was vorbei ist, so sehr man auch darum kämpft wie Straschek, um alles kämpft, daher konnte sein Erhaltungswerk auch nie abgeschlossen werden. Weil es nie abgeschlossen sein kann. Wasser kann man zwar fassen, in einem Becken, einem Kübel, wo auch immer, aber irgendwann muß man es freilassen, sonst kann man es nicht einmal mehr zum Gießen nutzen.

Ich sehe Strascheks Arbeit, ich höre seine Fragen über die Arbeit von Menschen, ich sehe ihnen zu, wie sie das, was einmal war, festhalten wollten, im Sprechen, indem sie auf diese Fragen antworteten, und die Antworten wurden wieder auf dem ablaufenden Filmmaterial festgehalten (heute erledigen das die flinken Elektronen, die sind noch weniger greifbar als das Filmband, noch flüchtiger), und es ist schon nicht mehr Zeit, von der die Rede ist, die vergeht, bekanntlich mit den Menschen in ihr, die inzwischen alle auch schon vergangen sind, ihr Leben, jedes Leben ist das Flüchtigste überhaupt, es ist nicht mehr Zeit, es wird Zeit, denn wo Zeit ist, wird es Zeit, daß wir aufbrechen. Und sobald man sich in die Zeit begibt, muß man sie schon wieder hergeben, und man verschwindet, nur Bilder und Licht bleiben noch eine Weile, die man ihnen zugemessen hat, und sagen: Ich bin jetzt. Doch dann, irgendwann immer, kommt das endgültige Vorbei, es ist ein Wettrennen des Vorbei, bevor alles aus ist. Aber zuerst soll noch ein Ausgangspunkt, der kein Anfang ist, denn die Menschen waren ja meist, nicht immer, schon fertig, wenn auch nicht fertig mit sich, die Zeit war immer die gleiche, wenn auch woanders, denn sie läuft ja überall nach dem gleichen Maß, nur ist es nicht überall gleich spät, und in diesem Vorbei und Woanders mußten sich viele dieser Film-Menschen wandeln, manche mehr, andre weniger, aber man sieht heute, was man damals nicht sehen wollte, nämlich was man an ihnen verloren hat. Es ist die große Leistung Strascheks, das zu zeigen. Die Gegenwart war eine andere als die, der sie entkommen waren, diese Filmschöpfer, jeder, jede an dem Ort, an den sie gestellt waren. Und ich nehme eine Moment: Aufnahme! Ruhe bitte, action! heraus, Fritz Lang, über dessen Wiener Akzent ich staune, weil ich ihn mir nie so vorgestellt habe, er erzählt in dieser wunderbaren, konservierten Sprache (ja, man denkt unwillkürlich: Das, was geblieben ist und heute nicht mehr ist, ist auch diese Sprache. Heute spricht niemand mehr so, und jedes Sprechen ist schon verloren, obwohl alle ununterbrochen sprechen, so kommt es mir vor, wenn ich das höre, auch von den anderen Befragten), wie Goebbels ihn zu sich bestellt, ihn für einiges tadelt, für anderes lobt, und Fritz Lang steht vor dem Ungeheuer, der Bestie der damals so modernen Zeit, zumindest hat sie sich das angemaßt, und modern sollte alles andre auch werden, bis auf diejenigen, die dabei nicht mitkommen und mitmachen durften, modern, ja, vor allem der deutsche Film. Und während der damals schon berühmte Regisseur da steht oder sitzt und Goebbels schwadronieren hört, was er mit ihm vorhat, hat Fritz Lang ständig die Uhr draußen, eine große Straßenuhr, auf die starrt er, die hat er buchstäblich im Auge und liest die Minuten ab, die der Schwätzer da vor ihm abspult, als gehörten sie alle ihm (was der Fall war. Und der Fall so vieler Menschen auch), und er zittert, weil er noch in die Bank will, um für seine Flucht, von der er sofort wußte, daß sie unumgänglich sein würde, noch Geld abzuheben. Und dann war die Zeit vorbei. Sie ist abgelaufen, für viele ist sie abgelaufen, für andre hat sie erst angefangen, und man muß selber rennen, damit man nicht vor der Zeit aufhört zu sein. Oder in der Zeit endlich aufblüht, worauf man lange gewartet hat. Ja, jetzt sind wir dran! Lang jedenfalls hat noch in derselben Nacht den Zug bestiegen, ohne sein Geld, das mußte leider dableiben. Aber die Uhr, darauf will ich hinaus, die Uhr war sein Schicksal, vielleicht irre ich mich wie fast immer, aber ich sehe am Schluß seines Films Hangmen Also Die! (der Film kam 1943 heraus, in Deutschland wurde er 1958 gezeigt) die riesige Kirchturmuhr, von deren sich zur Melodie der Geschichte drehenden Figuren der geflohene und mit gefälschter Identität in Amerika lebende Nazi aufgespießt und getötet wird.

Diese Obsession von der Uhr, also von der Zeit, die ihn verjagt hat, die sehe ich im Film wieder aufleben, als könnte die Zeit an einer beliebigen Stelle wiederaufgenommen werden, so wie man bei einem Abspielgerät den Film beliebig vor- und rückwärtslaufen lassen kann. Und ich sehe Günter Straschek, dem Chronisten dieser Zeit, dabei zu (obwohl man nur seine Stimme aus dem Off hört), wie er diese Zeit abmißt, sie ist genauso lang wie Lang (ja, was für eine Ironie: Lang!) spricht, der ihm diese Episode erzählt. Die Zeit ist immer nur so lang, wie jemand lebt, und wäre es in seiner Erzählung.

Nur die Filme leben länger als die Zeit, ja, die Musik auch. Und so lebt Lang länger. Aber mit Namen soll man keine blöden Witze machen. Ich denke, das ist eine Besessenheit, die Zeit so abzumessen, daß das Vergangene sofort jetzt ist, auch zum wiederholten Mal. Wir wollen keine Zeit verlieren, ja, wir haben keine Zeit zu verlieren, und schon ist sie verloren. Für Straschek aber nicht, er wartet, er spricht, er zeigt: Ein andrer, eine andre spricht, und mit der Zeit kommt das Unheimliche auch, ein Unheimliches, das hier chronisch geworden ist für den Chronisten, denn wenn er nichts (oder: etwas!) in dieser Gegenwart gefunden hätte, das an das Verschwundene erinnern würde, dann hätte er nichts zu melden gehabt. Hier sind diejenigen, die sich selbst (und Straschek zieht an ihnen, damit sie leichter aus sich herausgehen) dem Verschwinden entrissen haben, und sie stehen damit auch für die Verschollenen ein, mit ihrem Wort. Sie sind beim Chronisten am Wort gewesen und können nicht mehr verschwinden wie die Toten, für die die Zeit stillgestanden ist, weil sie davor vor ihren selbsternannten Führern strammgestanden ist. Aber man weiß, wie es gekommen und wieder gegangen ist: alles Soldaten des Verschwindens. Hätte es die Ausgelöschten nicht gegeben, wäre die Zeit also noch das, was sie einmal war, dann wäre sie immer jetzt und würde immer noch warten, vielleicht auf etwas Schreckliches oder auf etwas Gutes, man weiß es nicht. Die Zeit ist etwas, das einmal war und ein andermal sein wird, aber auf diesem Weg das Zukünftige trifft und gleichzeitig das Vorbei, oje, die Zeit schlägt sich da ordentlich den Kopf an, zwei Züge fahren aufeinander zu, der Zug der Zeit, der etwas mit sich bringen sollte, was er gar nicht dabei hatte, nicht mit sich geführt hat und wenn, dann hat er es unterwegs verloren, und der Zug einer anderen Zeit, der etwas genommen wurde, das der Chronist dann doch für andere bewahren konnte. Günter Straschek hat beim Beladen geholfen, und wir dürfen jetzt dabei zuschauen, in der Sorge, daß unser Zukünftiges jetzt auch schon wieder vorbei sein könnte.


Günter Peter Straschek (Mitte), Carlos Bustamante (links) und Johannes Beringer (rechts)
am Set von Labriola, 1970
Foto: Michael Biron

Ausstellung HIER UND JETZT, im Museum Ludwig, Köln, 3. März - 1. Juli 2018,



19.3.2018


Die Zeit ist auch nicht mehr, was sie einmal war © 2018 Elfriede Jelinek

 

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